«Das sollte der letzte Sargnagel für den Body-Mass-Index sein»

Der BMI taugt viel weniger zur Einschätzung des Gesundheits-Zustands als bisher angenommen: Dies besagt eine weitere grosse Studie. Ihr Fazit: Übergewicht wird gesundheitspolitisch massiv überbewertet.

, 8. Februar 2016 um 10:00
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Der BMI ist zur Alltagsabkürzung geworden: Die Formel aus Körpergrösse und Gewicht gilt insbesondere unter Laien als Indikator, der allerhand über Gesundheitszustand und –risiken aussagt. Und den Profis dient sie oft zur Ordnung und zur Schnelleinschätzung.
Gewiss, die Bedeutung wurde auch schon angezweifelt, zunehmend intensiv in den letzten Jahren (siehe etwa hierhierhier, hier und hier). Aber ein Team von Forschern der UCLA sowie der University of California Santa Barbara greift diese Gewissheiten nun doch mit bislang ungewohnt drastischen Worten an. «Wir denken, dass der BMI ein wirklich derber und schrecklicher Indikator für die Gesundheit von jemandem ist», sagte die Studienleiterin, A. Janet Tomiyama, in der «Los Angeles Times»: «a really crude and terrible indicator of someone’s health».
Weshalb? In Ihrer Untersuchung stellten sich Tomiyama und drei Kollegen schlicht und einfach die Frage, wie sich der BMI zu einer ganzen Reihe von entscheidenden Vitalwerten ins Verhältnis stellt – etwa Blutdruck, Triglycerid-Werte, Cholesterin, C-reaktives Protein, Insulinresistenz… Die Basis der Studie waren 40'420 Personen, deren Daten im Rahmen einer nationalen Gesundheits-Erhebung aufgenommen worden waren (NHANES 2005–2012).

A J Tomiyama, J M Hunger, J Nguyen-Cuu, C Wells: «Misclassification of cardiometabolic health when using body mass index categories in NHANES 2005–2012», in: «International Journal of Obesity», Februar 2016.

Dabei zeigte sich nun, dass etwa die Hälfte der laut BMI-Faustregel übergewichtigen Personen gemessen an den wichtigsten Metabolismus-Indikatoren gesund waren. Auch 29 Prozent der adipösen Menschen und selbst 16 Prozent der Schwergewichte mit einem BMI über 35 hatten in den übrigen Bereichen gute Werte.
Auf der anderen Seite liessen sich bei mehr als 30 Prozent der normalgewichtigen Personen ungesunde kardiovaskuläre und kardiometabolische Zustände festmachen.

Weshalb soll dies der letzte Sargnagel sein?

Nun ist dies, wenn man genau hinsieht, ja noch lange keine Entwarnung. Die Daten von Tomiyama et al. besagen letztlich auch, dass Übergewichtige mit knapp 1,5-facher Wahrscheinlichkeit schlechtere sonstige Werte haben als Normalgewichtige.
Und dennoch kommentierte die Studienautorin – Psychologieprofessorin in Los Angeles – ihre Daten mit dem Satz: «Das sollte der letzte Sargnagel für den BMI sein». Was arg drastisch erscheint.
Worum geht es? Offenbar auch um die politische und gesellschaftliche Dimension: Die entscheidende Studienaussage ist, dass offenbar deutlich weniger Kongruenz besteht zwischen hohem BMI-Wert und schlechter Gesundheit als gemeinhin angenommen; und dass folglich – zweitens – dieser Aspekt allzu sehr als volksgesundheitliches Problem dargestellt wird. Der BMI, so die Kernaussage, wird gesundheitspolitisch überbewertet.

Eine durchaus brisante Feststellung

In den USA, wo ein hoher BMI-Wert oft direkt mit höheren Versicherungsprämien abgestraft wird, ist dies eine brisante Feststellung. Aber auch in der Schweiz mag man sich nun vielleicht vermehrt fragen, wie gültig die Eins-zu-Eins-Betrachtung ist, wonach die 41 Prozent als übergewichtig oder schlimmer eingestufte Bevölkerung auch gesundheitlich schlechter dran sind als die anderen 59 Prozent. 
In den USA lässt sich anhand der neuen Studie jedenfalls hochrechnen, dass Dutzende Millionen obese oder overweight Personen ebenso gute kardiovaskuläre und metabolische Werte haben wie idealgewichtige Menschen – oder sogar bessere.

«Versuchen, die diagnostischen Werkzeuge zu verbessern»

Das Fazit der kalifornischen Untersuchung: «Die Gesundheitspolitiker sollten die ungewollten Folgen in Betracht ziehen, die entstehen, wenn man sich ausschliesslich auf den BMI verlässt; und die Forscher sollten versuchen, die diagnostischen Werkzeuge zu verbessern, die mit dem Gewicht und der kardiometablischen Gesundheit zusammenhängen.» 
Studienleiterin Tomiyama konkretisierte dies in der «Los Angeles Times» noch weiter: Der BMI sei als Indikator beliebt, weil er so simpel ist. «Aber eine Blutdruckmessung ist auch ziemlich einfach. Es braucht etwa 20 Sekunden, und man hat die Geräte dazu. Und so denke ich wirklich, dass wir uns auf bessere Gesundheitsmarker wie den Blutdruck konzentrieren sollten, insbesondere wenn wir über finanzielle Bestrafungen reden.»

Der letzte Sargnagel für den BMI? 

Die Stellungnahme von Heinrich von Grünigen,

Präsident der Schweizerischen Adipositas-Stiftung SAPS


Das Resultat dieser Studie ist nicht wirklich überraschend und deckt sich zu weiten Teilen mit unseren eigenen Intentionen. Angesichts der immer wieder geäusserten Zweifel an der Aussagekraft des BMI (Vorwurf: er unterscheidet nicht zwischen Fett- und Muskelmasse) haben wir stets gesagt, der BMI sei ein Indikator unter anderen; ein Indikator, der zumindest eine grobe Klassifizierung und Orientierung auf der Übergewichts-Skala zulasse.
Dabei sei jeder Fall von Adipositas und Übergewicht immer individuell zu betrachten, auf der Basis einer spezifischen Anamnese und – im Falle einer ausgeprägten Adipositas – einer medizinischen Stoffwechsel-Analyse.
Das Phänomen des «gesunden Dicken» ist anerkannt
Seit einiger Zeit ist ja auch das Phänomen des «gesunden Dicken» wissenschaftlich anerkannt: bis zu 25 Prozent – je nach Untersuchungsanlage – der Menschen mit Adipositas weisen nicht alle Merkmale des Metabolischen Syndroms auf und haben weitgehend gesunde Kennwerte. 
Dieser Befund ist allerdings auch abhängig vom Alter der Betroffenen. Das Risiko für bestimmte Erkrankungen steigt mit zunehmendem Alter.
Schon lange versuchen wir den Leuten, die bei uns Beratung suchen, zu erklären, dass der BMI-Wert nicht verabsolutiert werden soll; dass jemand, der einen BMI von 26 hat, nicht bereits in Panik verfallen und mit einer Crash-Diät Gegensteuer zu geben versuchen sollte; und dass es durchaus akzeptabel sei, in der zweiten Lebenshälfte bei entsprechender Veranlagung etwas «mehr» zu wiegen.
Die Frage nach dem Huhn und dem Ei
Dabei muss einem jedoch bewusst sein, dass es allenfalls wichtig ist, sein Gewicht auf einem höheren BMI-Niveau zu stabilisieren und es nicht weiter bis zur Adipositas ansteigen zu lassen. Aber viel stärker als der BMI sind hier oft andere Einflüsse wie Kleidergrösse, Mode, das soziale Umfeld und mediale «Vorbilder» aus der Werbung. Und sehr oft beginnt die fatale «Abnehm-Spirale» bereits bei Jugendlichen. Auf der andern Seite sind die «Verschleisserscheinungen» am Skelett und in den Gelenken, die durch exzessives Gewicht verursacht werden, ein Phänomen, das bei Normalgewicht nicht im gleichen Masse auftreten würde.
Die Frage nach der Interdependenz zwischen Übergewicht/Adipositas und den sogenannten Komorbiditäten gleicht zuweilen der Frage nach dem Huhn und dem Ei… 
Ein Erklärungs-Ansatz wäre, dass der gleiche, «ungesunde» Lebensstil, der gewisse Erkrankungen begünstigt, zugleich auch zu Übergewicht und Adipositas führt. Wird dieser Lebensstil geändert, so verringert sich das Gewicht – und gleichzeitig auch das Risiko dieser Krankheiten. Sofern man sie denn gehabt hat.
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