Das Schweizer Gesundheitssystem der Zukunft

Die Einführung von Kostenzielen für das Gesundheitswesen lässt sich vermutlich vermeiden. Zu diesem Schluss kommt die Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW – und skizziert andere Lösungsvorschläge.

, 2. April 2019 um 04:00
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Nun schaltet sich die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in die Debatte um Reformen für das Gesundheitswesen ein. In einem Positionspapier erläutert die Wissenschaftsakademie auf über 40 Seiten, warum das «Weiter wie bisher» nicht zukunftsfähig sei.
Dabei präsentiert der «Think Tank» auch gleich Lösungsvorschläge und Sofortmassnahmen, um das Gesundheitssystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Was es nun dringend brauche, seien Reformen, die sich an gemeinsamen Zielen orientierten. Das Papier richtet sich an alle Akteure und umfasst acht konkrete Massnahmen. 
  • 1. «Triple-Aim-Konzept als Kompass»: Die Akteure des Gesundheitssystems sollten sich am Triple-Aim-Konzept orientieren, formuliert vom amerikanischen Hastings Center. Die Grundidee sei dabei, aus einer Public- Health-Perspektive, einer individualmedizinischen Perspektive und einer Nachhaltigkeitsperspektive Ziele für das Gesundheitssystem zu formulieren.
  • 2019-2023: Unter anderem Schaffung eines eidgenössischen Gesundheitsgesetzes.

  • 2. «Wenige Gesundheitsregionen»: Die Kantone sollten sich zu wenigen Gesundheitsregionen zusammenschliessen. Jede Region umfasse idealerweise rund 1,5 Millionen Einwohner und sei Sitz eines Universitätsspitals.
2020–2021:  Studie und Durchführung von «Experimenten» in einer Versorgungsregion.3. «Gesundheitskompetenz im Kindesalter»: Die Vermittlung von Gesundheitskompetenz sollte bereits im Kindesalter beginnen. Im Zuge der Digitalisierung und der damit einhergehenden Fülle an Daten würden zudem Gesundheitsfachleute zunehmend als Berater gefragt sein.2019-2020: Unter anderem «Best-Practices» in Kitas, Schulen etc. als Pilotprojekt.4. «Ausbildungsplätze am Bedarf ausrichten»: Es ist laut den Autoren des SAMW-Positionspapiers notwendig, dass die Verantwortung und die Kompetenzen bei der medizinischen Behandlung von Patienten neu überdacht und geregelt werden. So sollte sich die Anzahl der Ausbildungsplätze am Bedarf ausrichten. Ebenso sei die Ausbildung von Advanced Practise Nurses (APNs) zu fördern.2020–2021: Unter anderem Aufbau eines nationalen Steuergremiums.5. «Daten für Taten»: Hier wird vor allem das Elektronische Patientendossier EPD erwähnt. So sei etwa die doppelte Freiwilligkeit so rasch wie möglich abzuschaffen, schreiben die Verfasser. 2020-2023: Insbesondere ein Gesetz zur Abschaffung der «doppelten Freiwilligkeit».6. «Obsolete Interventionen streichen»: Vor allem der Ansatz Health Technology Assessment (HTA) sei geeignet, um medizinische Interventionen auf die WZW-Kriterien hin zu überprüfen – und gegebenenfalls in die Negativliste des Leistungskatalogs aufzunehmen. Möglichkeiten bieten hier gemäss SAMW auch Initiativen wie «Smarter Medicine» bzw. «Choosing Wiseley».2019-2022: Empfehlungen aus «smarter medicine»-Listen führen etwa zur Entfernung aus dem Leistungskatalog.7. «Anreizsysteme gegen Unter- und Überversorgung»: Dazu sei ein Vergütungssystem erforderlich, das sich am Massstab von Qualität, Effizienz, Verteilungsgerechtigkeit und volkswirtschaftlichen Gesamtkosten orientiere und den neuen Kompetenz- und Aufgabenverteilungen gerecht werde. Hier komme vor allem der geplante Experimentierartikel ins Spiel, zum Beispiel für Value-Based-Insurance-Modelle wie Pay for Performance.2020-2022: Monistische Finanzierung und Prüfung einer Abschaffung der Einzelleistungstarife.8. «Zielvorgabe für die Gesundheitskosten»: Die SAMW geht davon aus, dass sich eine verbindliche Zielvorgabe für das OKP-Wachstum bei konsequenter Umsetzung des Triple-Aim-Konzeptes vermeiden lasse. Sollte es dennoch so weit kommen, seien vor der Einführung eines Kostendachs Regeln für die Allokation und Priorisierung der Mittel aufzugleisen. Und zwar unter Beteiligung aller Stakeholder. Auch unerwünschte Auswirkungen wie Mengenausweitungen müssten rasch erkannt und korrigiert werden.2020: Erarbeitung von empirischen, gesetzlichen und ethischen Grundlagen im Hinblick auf die allfällig notwendige Festlegung einer Obergrenze.

Von der Selbsthilfe bis hin zur Spitzenmedizin

Der SAMW-Arbeitsgruppe gehörten unter anderem verschiedene Professoren an, aber auch die Patientenschützerin und Aargauer Alt-Gesundheitsdirektorin Susanne Hochuli oder Reto Schneider von der Krankenversicherung Swica. Die Lösungsvorschläge liess das Gremium von Experten begutachten, etwa durch SBK-Präsidentin Helena Zaugg, GDK-Zentralsekretär Michael Jordi, Gesundheitsökonom Heinz Locher oder CSS-Chefin Philomena Colatrella. 
Die Verfasser des Papiers liefern im Papier auch detaillierte Angaben zum Schweizer Gesundheitssystem der Zukunft, etwa zur Struktur: Diese sollte hauptsächlich auf dem Subsidiaritätsprinzip basieren.
  • Selbsthilfe: Je nach Möglichkeit
  • Gesundheitsstationen: Allgemeine innere Medizin, Gynäkologie, Pädiatrie, Psychiatrie; Apotheke; Physiotherapie; ambulante Reha; Mütter- und Väterberatung; Spitex; Sozialdienst, Pro Senectute und Fahrdienst. Eine Gesundheitsstation ist zuständig für ca. 20'000 Patienten.
  • Öffentliche und private Regionalspitäler: Decken die «stationäre Medizin des Häufigen» ab; ihr Einzugsgebiet umfasst ca. 300'000 Patienten. Notfalldienst erfolgt in den Regionalspitälern, und zwar durch Mitarbeitende der Gesundheitsstationen.
  • Universitätsspitäler: Befassen sich einerseits mit der «Medizin des Seltenen» und stellen andererseits die «Spitzenmedizin» sicher. Jede Gesundheitsregion besitzt ein Universitätsspital.
  • Heime: Auch den Alters- und Pflegeheimen kommt eine grosse Bedeutung zu.

Neu: Künftig steuern Navigatoren

Bagatellfälle lassen sich im Gesundheitssystem der Zukunft häufig durch Telefonberatung, Gesundheits-Apps oder gemeindenahe Versorgungsmodelle zufriedenstellend erledigen, wie die Autoren weiter schreiben. Bei komplexen Erkrankungen sollte ein interprofessionelles «Indikationenboard» die geeignete Therapie entscheiden. Alle Informationen und Entscheidungen seien dabei im Elektronischen Patientendossier (EPD) abrufbar.
Eine besondere Funktion komme den sogenannten Navigatoren zu: Diese steuern den Zugang zu den Gesundheitsdienstleistungen. Die Rolle der Navigatoren sei aber nicht notwendigerweise an eine Ärztin oder einen Arzt gebunden. Auch geschulte Laien, Sozialarbeiter oder Pflegefachpersonen könnten diese Aufgaben übernehmen.

Medizin mit einem Preisschild versehen

Wenig überraschend finden sich zahlreiche Massnahmen im Papier, die auch der umstrittene Expertenbericht über «Kostendämpfungsmassnahmen» vorgeschlagen hat. Das sei einerseits zufällig, aber auch nicht: Denn die meisten der Massnahmen drängen sich gemäss SAMW bei unvoreingenommener Sichtweise geradezu auf.
Die Vorschläge enthalten demnach auch beispielsweise die Forderung, stationäre und ambulante Leistungen nach denselben Regeln zu finanzieren – oder finanzielle Fehlanreize und exzessive Preise zu minimieren. Zudem sollte jede medizinische Leistung mit einem Preisschild versehen werden. Dies ermögliche Kostentransparenz und angemessene Entscheidungen. 


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