«Der Artikel löst keinerlei Probleme – schafft aber neue»

Für die oberste Ärztin der Schweiz klingt die geplante Idee der Kostensteuerung zwar zunächst überzeugend. Doch sie sei aber praktisch leider weder umsetzbar noch sinnvoll, sagt Yvonne Gilli.

, 4. April 2022 um 07:30
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Das Parlament in Bern könnte demnächst einen bedeutungsvollen Richtungswechsel für das Gesundheitswesen vollziehen. Nach den politischen Winkelzügen mit «Artikel 47c» im Krankenversicherungs-Gesetz sollen «Regeln zur Korrektur bei ungerechtfertigten Erhöhungen der Mengen und der Kosten» vollzogen werden. Kurz: Es soll eine Kostenobergrenze für das Gesundheitswesen eingeführt werden. Wird diese Grenze überschritten, drohen Ärzten und Ärztinnen finanzielle Sank­tionen.
Das Vorhaben ist von enormer Tragweite und mag vielleicht erstmal vernünftig, unverdächtig und zustimmend erscheinen. Doch was denken die Ärztinnen und Ärzte, die tagtäglich Patientinnen und Patienten an der Front behandeln? Für Yvonne Gilli ist die Gesetzesänderung erst «der Auftakt eines Paradigmenwechsels in der Geschichte des Krankenversicherungsgesetzes». Die oberste Ärztin der Schweiz bezeichnet den geplanten Gesetzesartikel ganz klar als eine «Fehlkonstruktion, die zur Fehlversorgung für die Bevölkerung führt.»

Pseudowissenschaft ins ­Krankenversicherungsgesetz?

Zwar habe der Nationalrat zwischenzeitlich Anpassungen vorgenommen, schreibt die FMH-Präsidentin in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der «Schweizerischen Ärztezeitung». Doch das Kernproblem bleibe unverändert: Es sollen Faktoren definiert werden, die die Kosten- und Mengenentwicklung im Gesundheitswesen «erklären» können. Alles, was darüber hinausgehe, gelte als «ungerechtfertigt» und soll Tarifkorrekturen nach sich ziehen.
Die Befürworter argumentieren, dass die Kostenobergrenze auf «wissenschaftlicher Basis» umgesetzt werden könnte. Er richte sich ja nur auf Kosten und Mengen, die nicht «erklärbar» und damit «nicht gerechtfertigt» seien, heisst es. Das klinge zwar zunächst überzeugend, sei aber praktisch leider weder umsetzbar noch sinnvoll, so Gilli, die früher für die Grüne Partei im Nationalrat sass. Sie bezeichnet es als «Pseudowissenschaft» und führt zwei Argumente ins Feld.
  • Erstens liess sich die Kostenentwicklung noch nie zu 100 Prozent durch bekannte Faktoren erklären. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) liegen 56 Prozent des Kostenanstiegs «verschiedene, einzeln nicht identifizierbare Einflussfaktoren zu Grunde», und selbst das BAG war einmal der Auffassung, für 65 Prozent des Kostenwachstums könnten «keine klaren Ursachen isoliert werden». Entsprechend sind statistische Erklärungen der Kostenentwicklung mit grosser Unsicherheit verbunden. So  prognostizierte z.B. die Konjunkturforschungsstelle für den Kanton Bern im Jahr 2019 ein Kostenwachstum zwischen –1,1 Prozent und +7,8 Prozent. Möchten wir auf einer solchen Zahlenbasis die Angemessenheit der Gesundheitsversorgung beurteilen, fragt Gilli? Dies wäre nicht Wissenschaft, sondern Pseudowissenschaft – und öffnet der Willkür Tür und Tor.
  • Zweitens wären gemäss Gilli selbst im Fall echter Überbehandlungen Tarifreduktionen nicht zielführend: Man würde so allen Ärzten und Ärztinnen eine Leistung, die von einzelnen zu viel erbracht wurde, schlechter bezahlen – völlig unabhängig davon, ob sie diese Leistung zu Recht erbringen oder nicht. Ein als sachgerecht und betriebswirtschaftlich korrekt vom Bundesrat genehmigter Tarif würde reduziert. Der damit verursachten Unterfinanzierung würde die Unterversorgung folgen.

Dann kommt der Staatstarif und Unterversorgung

Der neue Artikel 47c zielt laut Gilli somit am Problem überflüssiger Behandlungen völlig vorbei. Diese sollten ja nicht einfach schlechter bezahlt werden – sondern müssten individuell geahndet und verhindert werden. Dies gewährleisten heute WZW-Verfahren, wie sie schreibt. Und auch das vom Artikel geforderte Kostenmonitoring (mit Sanktionen) gebe es längst: Es könnte bereits angewendet werden, würde das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) den neuen zeitgemässen ambulanten Tarif Tardoc nicht seit 2019 blockieren, so die oberste Ärztin der Schweiz.
Das geplante Vorhaben, das ohne Zweifel zu einer immensen Zunahme an Verwaltungsaufwand führt, löst für die FMH-Präsidentin keinerlei Probleme – schaffe aber neue: Die Tarifpartnerschaft würde wohl an der ­unlösbaren Aufgabe scheitern, und ein Staatstarif würde etabliert. Fehlanreize und Unterversorgung würden zum Regelfall. 

Kommt es zum Referendum?

Der Bundesrat argumentiert zwar, die «Kostensteuerung» nach Artikel 47c bewirke keine «Ra­tionierung». Er verkenne aber, so Gilli, dass planwirtschaftliche Massnahmen die Mangelversorgung noch nie zum Ziel, aber immer zur Folge hatten. Das könnten auch die Tarifpartner nicht verhindern, die gemäss Artikel 47c «Planungs- und Steuerungsentscheide der zuständigen Behörden» berück­sichtigen müssten.
Alles in allem scheinen die Ärztinnen und Ärzte mit der Gesetzesänderung nicht zufrieden zu sein. Auch für den Krankenkassenverband Curafutura und für den Verband Scienceindustries ist das Experiment mit der Kostenobergrenze hinsichtlich Patientenversorgung keine gute Idee. Es würde demzufolge nicht überraschen, wenn das Volk bei der Diskussion rund um verbindliche Zielvorgaben und Globalbudget und der damit einhergehenden Zwei-Klassen-Medizin das letzte Wort hätte. Für ein Referendum käme insbesondere die Verbindung der Berufsverband FMH infrage, den Yvonne Gilli präsidiert.    
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