Immer wieder ist zu lesen: Die Schweiz sei derzeit psychiatrisch unterversorgt und könne deshalb die steigende Nachfrage auf Grund der Corona-Krise nicht mehr bewältigen. Falsch, sagt die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP. Es gibt keine Unterversorgung, längere Wartefristen seien die Ausnahme. Viele Psychiaterinnen und Psychiater haben ihr Pensum erhöht und in allen Regionen stehen Notfalldienste zur Verfügung. Niemand müsse abgewiesen werden.
Psychiater kritisieren Psychologenverband
Der Psychiaterverband stört sich daran, dass die durch die Pandemie gestiegene Nachfrage nach psychiatrischen und psychologischen Behandlungen für berufspolitische Interessen ausgenutzt wird. Dabei richten die Psychiater den Blick auf die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). Diese behauptet nämlich in einem Brief an den Bundesrat, dass in der Schweiz zu wenig Psychiaterinnen und Psychiater tätig seien. Die Psychologen nehmen dabei Bezug auf die «Swiss Corona Stress Study» der Universität Basel. Demnach sollen 18 Prozent der Bevölkerung unter schweren depressiven Symptomen leiden.
Doch diese Studie habe nur geringe Aussagekraft, da sich ihre Ergebnisse auf eine kurze Online-Selbsteinschätzung einer absolut nicht repräsentativen Bevölkerungsgruppe beziehen, sagen die Psychiater. Wenn nun der Eindruck erweckt werde, die Pandemie habe bei so vielen Menschen schwere Depressionen zur Folge, sei das «kontraproduktiv», sagt Rafael Traber, Vizepräsident der psychiatrischen Fachgesellschaft. Es sei elementar, sich an den Fakten zu orientieren. Das habe auch mit Verantwortung gegenüber jenen Menschen zu tun, die tatsächlich unter schweren Depressionen leiden.
Dramatisierende Berichte haben «suggestive» Wirkung
Der vorherrschende Alarmismus kann für die Hilfesuchenden zudem schlimme Folgen haben, wie die Psychiater weiter schreiben. Es würden Ängste geschürt, in schwierigen Situationen keine psychiatrische oder psychologische Hilfe zu erhalten. «Wie unsere Erfahrungen im Lockdown gezeigt haben, melden sich in der Folge potenzielle und ehemalige Patientinnen und Patienten nicht, weil sie denken, wir seien überlastet, oder andere hätten die Hilfe nötiger», sagt SGPP-Präsidentin Fulvia Rota.
Dramatisierende Darstellungen der psychischen Situation der Bevölkerung sollten deshalb vermieden werden. Denn solche Berichte können eine «suggestive» Wirkung haben und dazu führen, dass Personen tatsächlich Angststörungen und andere Symptome entwickeln, sagen die Experten der Fachgesellschaft, die rund rund 2'000 Mitglieder vertritt.
Warum trotzdem ein Mangel drohen könnte
Generell gelte es, die Versorgung in der Schweiz nicht aus dem Blickwinkel der Corona-Pandemie zu beurteilen. Die gestiegene Nachfrage könne dank Sondereinsätzen aufgefangen werden. Es sei aber wichtig, die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten voranzutreiben und das Nachwuchsproblem in der Fachrichtung Psychiatrie zu beheben. Wenn nicht rechtzeitig Gegensteuer gegeben werde, dann drohe tatsächlich ein Mangel an Psychiaterinnen und Psychiatern, so die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP).