«Schauen Sie genau, wen Sie heiraten – das meine ich ernst.»

Seilschaften, starre Regeln und intransparente Gehälter bremsen Frauen auf dem Weg zur Chefarztposition. Rückhalt daheim ist entscheidend – und Teilzeit ist problematisch: Das sagt Susanne Renaud, Chefärztin Neurologie am Spital Neuenburg.

, 10. September 2025 um 19:20
letzte Aktualisierung: 31. Oktober 2025 um 08:19
image
Susanne Renaud ist Chefärztin Neurologie am Hôpital neuchâtelois und anerkannt am CHUV (Abteilung für Neurowissenschaften) sowie an der Neurologischen Universitätsklinik Basel. Bild: zvg
Eine HSG-Studie zeigt, dass Schweizer Spitäler beim Anteil weiblicher Führungskräfte Schlusslicht sind. Überrascht Sie das?
Überhaupt nicht. Das bestätigt nur, was ich und viele Kolleginnen seit Jahren erleben. Ich bin seit 30 Jahren in der Schweiz, habe hier meine gesamte medizinische Ausbildung und Karriere gemacht. Früher hiess es: Warte 15 Jahre, dann ist der Geschlechterunterschied kein Thema mehr. Fünfzehn Jahre später hiess es dasselbe. Es tut sich etwas, aber sehr langsam.
Woran liegt das?
Die Ursachen sind vielfältig. Die Schweiz ist klein, jeder kennt jeden. Beziehungen entscheiden vieles. Bestimmte Kreise bestimmen untereinander, wer der nächste Chefarzt wird – oft schon Jahre im Voraus. Gefördert wird, wer einem am ähnlichsten ist.
Sollten Berufungskommissionen nicht gerade dafür sorgen, dass ungeeignete Kandidaten gar nicht erst berufen werden?
Berufungskommissionen werden meiner Meinung nach nicht genügend kontrolliert oder evaluiert. Immer wieder werden Ärzte in Kaderpositionen berufen, die sich als ungeeignet oder schlicht geldgetrieben erweisen – und trotzdem wird die Kommission nicht zur Verantwortung gezogen.
«Von jungen Kolleginnen höre ich oft: 'Geld ist mir nicht so wichtig.' Aber wir reden hier von bis zu 30 Prozent Unterschied – je nach Fachgebiet.»
Dazu kommen Kriterien für Chefarztstellen, die für Frauen mit Familie praktisch unerreichbar sind. Ob diese Kriterien tatsächlich etwas mit guter Klinikleitung zu tun haben, sei dahingestellt. Und auch in finanzieller Hinsicht fehlt die Transparenz, vieles läuft nach dem Prinzip: 'Über Geld spricht man nicht.' Das zementiert Machtstrukturen.
Sie sprechen übers Geld.
Ja, das ist mir extrem wichtig. Bei niedergelassenen Neurologinnen beträgt der 'Pay Gap' 38 Prozent. Im Spitalbetrieb weiss man es nicht genau, die letzten Erhebungen stammen von 2014. Das hat mich regelrecht radikalisiert.
Richtet sich Ihre Kritik also auch an Frauen, die finanziell nicht mehr einfordern?
Frauen sind nicht sozialisiert, über Geld zu sprechen oder das einzufordern, was ihnen zusteht. Chefärztegehälter sind tabu. Männer haben gelernt zu verhandeln, Frauen fragen meist nicht nach Beförderungen oder Lohnerhöhungen. Von jungen Kolleginnen höre ich oft: 'Geld ist mir nicht so wichtig.' Aber wir reden hier von bis zu 30 Prozent Unterschied – je nach Fachgebiet. Auffällig ist auch: Sobald die Bezahlung in einem Fachgebiet sinkt, gibt es dort automatisch mehr Frauen. Das sagt doch schon einiges.
Oft hört man auch, Frauen wollten gar keine Chefärztinnen werden. Was entgegnen Sie?
Initial wollen sie es durchaus. Doch viele merken leider zu spät – meistens nach dem ersten Kind –, dass sich Karriere und Familienplanung schwer vereinbaren lassen. Manche warten vergeblich auf Förderung und ziehen sich zurück. Dann heisst es schnell: 'Die Frauen wollen halt nicht.' Das stimmt nicht. Man muss die Voraussetzungen schaffen, damit beides möglich ist.
«Ich halte auch eine Frauenquote für sinnvoll. Angst haben müssen nur schlecht qualifizierte Männer – für alle anderen ist Platz.»
Gleichzeitig ist der Chefarztjob heute teilweise unattraktiv, gerade in kleineren Spitälern. Der Druck, Kostenziele zu erreichen, ist enorm, Spitaldirektoren setzen Ärzte unter Druck, Geld einzubringen. Und weil die unteren Chargen mittlerweile überwiegend weiblich sind, werden Ärztinnen oft zu Sekretärinnen degradiert: Digitale Lösungen wie Dragon werden als Wundermittel verkauft, am Ende tippt die Assistenzärztin den Bericht selbst oder korrigiert stundenlang Sprachsoftware.
In einem TV-Film thematisierte das Fernsehen RTS Anfang Jahr sexuelle Belästigungen, Missbräuche und Erpressungen in Westschweizer Spitälern. Im Zentrum der Vorwürfe: Kollegen, Chirurgen, HR-Abteilungen. Inwieweit kennen sie das?
Übergriffiges Verhalten habe ich glücklicherweise nie erlebt. Persönliche Angriffe hingegen schon – etwa im Stil von: 'Sei doch lieb, Frau, reg dich nicht so auf.' Aber doch, ich will mich aufregen, bei Lohnunterschieden von bis zu 30 Prozent! Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag in einer Klinik den Assistentinnen eines Chefarztes so vorgestellt: 'Wenn man Susanne sieht, wirkt sie bedrohlich. Aber wenn man sie kennt, ist sie ganz weich.' Haben Sie schon einmal erlebt, dass ein männlicher Kollege so vorgestellt wird?
Welche strukturellen Hürden machen es Frauen besonders schwer, Chefärztin zu werden?
Da gibt es viele: Seilschaften, starre Kriterien, fehlende Transparenz, unrealistische Anforderungen, fehlende Vorbilder, sozialer Druck und persönliche Angriffe. Berufungskommissionen sind oft politisch besetzt, Kriterien werden männlich definiert. Viele Frauen glauben, sie müssten sich dreimal so sehr anstrengen und sich männlicher verhalten, um überhaupt Chancen zu haben – Marathon laufen, über Fussball reden, mehr publizieren, länger arbeiten. Mit Familie ist das kaum zu schaffen.
Welche Massnahmen könnten Spitäler ergreifen, um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen?
Transparenz ist entscheidend – es muss klar sein, wer welches Gehalt erhält. Zudem braucht es verbindliche, evaluierte Berufungskommissionen und klare Kriterien. Frauen sollten früh gefördert werden, Mentoringprogramme erhalten und gezielt Fähigkeiten vermittelt bekommen, um sich durchzusetzen. Ich halte auch eine Frauenquote für sinnvoll. Angst haben müssen nur schlecht qualifizierte Männer – für alle anderen ist Platz.
«Viele Frauen glauben, sie müssten sich dreimal so sehr anstrengen und sich männlicher verhalten, um überhaupt Chancen zu haben.»
Ihr Rat an junge Frauen, die Chefärztin werden wollen?
Nicht einfach in den Tag hineinleben, sondern die Karriere früh planen und zum Beispiel frühzeitig in die Forschung einsteigen. Sich nicht kleinmachen lassen und unbedingt eine Mentorin oder mehrere Mentoren suchen. Und: Schauen Sie genau, wen Sie heiraten – das meine ich ernst.
Das Privatleben wird in diesen Diskussionen oft ausgeklammert, aber es ist entscheidend. Viele Frauen gehen Kompromisse ein, um nicht alleine zu bleiben oder um doch noch eine Familie zu gründen. Mein Mann war glücklicherweise flexibel, sonst hätte ich es nie geschafft. Vorsichtig wäre ich auch bei Teilzeitstellen unter 80 Prozent – finanziell ist das problematisch, und man sammelt schlicht zu wenig Erfahrung.
PD Dr. med. Susanne Renaud ist Chefärztin Neurologie am Hôpital neuchâtelois und anerkannt am CHUV (Abteilung für Neurowissenschaften) sowie an der Neurologischen Universitätsklinik Basel.
Sie hat an der Technischen Universität München studiert und verfügt über langjährige klinische und wissenschaftliche Erfahrung in den Bereichen Multiple Sklerose, Dysimmun-Polyneuropathien und Schlaganfall.
Renaud engagiert sich in nationalen und internationalen Fachgesellschaften: Sie war von 2014 bis 2024 Präsidentin der FMH Prüfungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Neurologie, Mitglied des Komitees der Schweizerischen Schlaganfallgesellschaft, Präsidentin der zerebrovaskulären Kommission sowie Vizepräsidentin der Zertifizierungskommission für Stroke Units/Stroke Centers der SFCNS.
Weitere Mitgliedschaften umfassen die Schweizerische Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie, die American Academy of Neurology (AAN), die Schweizerische Gesellschaft zur Erforschung von Kopfschmerzen (SSC) sowie die Position der Vice-Präsidentin von Women in Neurology seit 2021. Zudem ist sie Kommitteemitglied der Chefärztinnen Vereinigung Schweiz

  • ärzte
  • karriere
  • HR
  • gleichberechtigung
  • lohn
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

Universitätsmedizin bleibt Männersache – trotz Lippenbekenntnissen

In der Westschweiz liegt der Frauenanteil in Top-Arztpositionen höher als in der Deutschschweiz. Eine neue Auswertung der Universitätsspitäler zeigt regionale Unterschiede – und ein nach wie vor tiefes Gesamtniveau bei den Spitzenpositionen.

image

Gesundheitswesen sucht am meisten Personal – mit wachsendem Abstand

Nach einer kurzen Entspannung im Frühjahr steigt die Zahl der offenen Stellen für Ärzte, Pflegefachleute oder MPA wieder an.

image

250'000 Franken Einstiegslohn: Ärzte sollen Angestellte sein

Gesundheitspolitiker Mauro Poggia fordert, Ärzte künftig fest anzustellen. Denn das heutige Tarifsystem verleite zu unnötigen Behandlungen und treibe die Kosten in die Höhe.

image

Spitäler: Weniger Chefinnen als in Banken und Versicherungen

Frauen sind in den Chefetagen der Spitäler nach wie vor unterrepräsentiert. Im Vergleich zu anderen Branchen weist die Ärzteschaft die härteste «gläserne Decke» auf.

image

Flexibilität oder Fairness? Debatte um Löhne an Zürcher Spitälern

In Zürich will eine Initiative den Spitalangestellten per Gesetz den Teuerungsausgleich sichern. Der Kantonsrat hob die Vorlage jetzt über die erste Hürde – ganz knapp.

image

SP greift nach LUKS-Löhnen: Initiative gegen Spitzenlöhne und «Postenschacher»

Auslöser für die Initiative der SP Kanton Luzern sind nicht zuletzt die angekündigten Gehaltserhöhungen für das Topmanagement im Luzerner Kantonsspital und in der Psychiatrie.

Vom gleichen Autor

image

Raus aus der Chirurgie, rein in die Privatwirtschaft

«Aufwand und Ertrag stimmen in der Chirurgie nicht», sagt der ehemalige Chirurg Mathias Siegfried. Er zog die Reissleine und wechselte in die Privatwirtschaft.

image
Nachgefragt bei …

«Hospital at Home» im Baselbiet: Zwischen Pilotprojekt und Zukunftsmodell

Der Kanton Baselland investiert knapp zehn Millionen Franken, um ‹Hospital at Home› aufzubauen. Dennoch ist die langfristige Zukunft des Angebots unsicher, sagt Severin Pöchtrager, Leitender Arzt von Hospital at Home.

image

«Öffentlich und Privat: Beide Systeme kämpfen ums Überleben»

Daniel Lüscher sagt im Interview, warum Spitäler zwischen öffentlichem Auftrag und privatwirtschaftlichem Denken balancieren müssen – und warum sie nicht freitags um 17 Uhr schliessen dürfen.