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«Wir müssen die Fehlanreize endlich überwinden»

Interview mit Prof. Dr. med. Christoph A. Meier, Chief Medical Officer von VIVA Health Suisse

, 23. November 2025 um 23:00
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Das Spital Zofingen.

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Prof. Dr. Christoph A. Meier ist seit Oktober Chief Medical Officer von VIVA Health Suisse. Nach zwanzig Jahren in führenden Positionen an bedeutenden Schweizer Spitälern – als Klinikdirektor für Innere Medizin am Stadtspital Triemli und am Universitätsspital Zürich sowie als Chief Medical Officer (CMO) am Universitätsspital Basel – bringt er seine umfassende klinische, wissenschaftliche und strategische Erfahrung nun in die Weiterentwicklung innovativer Versorgungsmodelle ein.
Im Gespräch erklärt er, warum das aktuelle Schweizer Gesundheitssystem langfristig so nicht tragfähig ist – und weshalb Capitation-Modelle wie das von VIVA Health Suisse eine Lösung sein könnten.

«Mehr Fälle bedeuten nicht automatisch bessere Medizin»

Herr Meier, Sie haben sich schon an einigen Stellen kritisch zum Schweizer Gesundheitssystem geäussert. Was läuft aus Ihrer Sicht schief?
Wir haben heute in der Schweiz ein System, das auf Volumen ausgerichtet ist: Oft ist es die Hauptaufgabe eines ärztlichen Direktors für noch mehr Volumen zu sorgen. Je mehr Fälle, desto mehr Umsatz. Das ist ökonomisch interessant, aber medizinisch nicht zwingend zielführend. In manchen (sehr gut vergüteten) Bereichen – etwa bei Knie- oder Hüftprothesen – sehen wir die höchsten Behandlungsraten weltweit. Im heutigen Fee-for-Service-System fehlt der Anreiz, jemanden zur richtigen Zeit mit der richtigen Modalität zu behandeln – oder eben auch konservativ.
«Unser System belohnt Nicht-Koordination.»
Es geht heute aus ökonomischer Sicht um Menge statt primär Zweckmässigkeit. Nehmen wir das Beispiel den akuten Rückenschmerzen: ohne sogenannte ‘red flags’ sollte in den ersten Wochen meist keine Bildgebung gemacht werden und konservativ behandelt werden – ein solcher Ansatz wird in unserem aktuellen System finanziell aber nicht belohnt. Langfristig sind solche systemischen Fehlanreize weder finanzierbar noch im Interesse der Patientinnen und Patienten.
Wo liegt das strukturelle Problem?
Die Schweiz ist geprägt durch Silos: ambulante Medizin, Spitäler (und dort häufig noch interne Silos), Rehabilitation, Generalisten – Spezialisten, Pflege – ärztliche Berufe, Apotheken u.v.m. Die daraus resultierende suboptimale Koordination ist für viele Leistungserbringer paradoxerweise u. U. sogar noch wirtschaftlich attraktiv, können doch z.B. gewisse Leistungen, wie Labor, Bildgebung, nochmals erbracht werden. Die mangelnden wirtschaftlichen Anreize zu einer Koordination und einem besserem Datenaustausch tragen indirekt sicher auch zum bis anhin trägen Fortschritt beim elektronischen Patientendossier bei.
«Wir haben nicht das Beste, sondern das zweitteuerste Gesundheitssystem.»
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit innovativen Versorgungsmodellen, und das Capitation-Modell von VIVA Health Suisse ist der erste ernsthafte Versuch in der Schweiz, diese Logik zu durchbrechen, auch wenn dies noch in den Anfängen steckt – und dies habe ich auch in öffentlichen Interviews bereits lange vor Übernahme meiner aktuellen Rolle vertreten.
Viele sagen: Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Stimmt das nicht?
Nein. Wir haben das zweitteuerste System. Für die meisten ist es zwar gut zugänglich, aber in internationalen Vergleichen landet die Schweiz nur im Mittelfeld, wie z.B. eine Anlyse des Commonwealth Funds letztes Jahr gezeigt hat. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der gefühlten und der tatsächlichen Outcome-Qualität – die in der Schweiz in den meisten Bereichen nicht erfasst und häufig auch nicht transparent gemacht wird.
«Capitation schafft prinzipiell Anreize für Qualität statt Quantität.»
Ein Beispiel: Viele bewerten das System positiv, wenn sie schnell ein MRI erhalten. Aber die Literatur zeigt gut, ein frühes MRI bei akuten Rückenbeschwerden (ohne etablierte Indikation) zu mehr Operationen führt – aber nicht unbedingt zu besseren Outcomes (oder manchmal sogar schlechteren). Das ist keine nachhaltige Versorgungs- und Qualitätsstrategie - weder finanziell noch personell.

Was ist bei integrated-capitated Systemen, wie VIVA, anders?

In einem integrierten, kapitativ vergüteten System tragen wir die Gesamtverantwortung für die Versorgung sowohl medizinisch als auch finanziell. Das motiviert, präventiv zu denken, ambulant gut zu behandeln und Hospitalisationen möglichst zu vermeiden. Es lohnt sich, wenn Patientinnen und Patienten nach einem Spitalaufenthalt gut koordiniert, rasch und sicher in die Rehabilitation oder nach Hause kommen und auch der Informationstransfer optimal erfolgt. Gespart wird nicht über Unterversorgung, sondern über Koordination, den Abbau von Silos und der Elimination von Fehlanreizen.
«Qualitätssicherung muss integraler Bestandteil des Modells sein und verbindet medizinische Verantwortung mit wirtschaftlicher Vernunft.»
Systeme wie Kaiser Permanente in den USA zeigen, dass solche Modelle Prävention und koordinierte Versorgung fördern. Man ist motiviert, Patientinnen und Patienten so zu betreuen, dass Spitaleintritte nur erfolgen, wenn sie wirklich nötig sind, und die Nachsorge gut funktioniert. Dabei geht es auch um Leistungen, die im heutigen Vergütungssystem oft nicht oder ungenügend abgebildet sind.
Weil das globale Budget fix ist (und dessen Höhe wird primär durch die Bereitschaft der Bevölkerung zur Bezahlung einer bestimmten Prämienhöhe festgelegt), ist es entscheidend, die Qualität kontinuierlich zu messen – insbesondere die Outcome-Qualität. Nur so lässt sich vermeiden, dass Einsparungen zulasten der medizinischen Sorgfalt gehen. Qualitätssicherung muss daher integraler Bestandteil des Modells sein und verbindet medizinische Verantwortung mit wirtschaftlicher Vernunft.

«Von Ärzten für Ärzte gedacht»

Viele integrierte Modelle scheitern am Datenaustausch oder an der Vergütung. Was macht Sie sicher, dass VIVA das besser kann?
Das Modell wurde in den USA von Ärztinnen und Ärzten für Ärztinnen und Ärzte entwickelt. Der Datenaustausch ist zentral, idealerweise über interoperable IT-Systeme. Wir arbeiten an verschiedenen Ansätzen, etwa einer integrativen App, die es Patientinnen und Patienten erlaubt, ihre Gesundheit aktiv zu managen: Sie können ihre Gesundheitsdaten, Berichte, PROMs und PREMs an einem Ort verwalten, digitale Interventionen nutzen und ihre Fortschritte direkt erfassen. So entsteht Transparenz und Eigenverantwortung.
Gleichzeitig spielen im VIVA-System die Gesundheitskoordinatorinnen und -koordinatoren eine zentrale Rolle. Sie unterstützen die Hausärztinnen und Hausärzte, koordinieren die Behandlung und sorgen dafür, dass alle Beteiligten auf dem gleichen Informationsstand sind. Damit stellen sie sicher, dass die Versorgung nahtlos, effizient und qualitativ hochstehend verläuft. Diese enge Zusammenarbeit und die konsequente Qualitätsbegleitung sind der Schlüssel, warum integrierte Versorgung bei VIVA funktioniert.

«Neue Berufsbilder werden möglich»

Welche weiteren Vorteile bringt das Modell?
Wenn man sich vom bisherigen Abrechnungssystem löst, wird es viel einfacher, neue Aufgabenprofile und vielleicht auch neuartige Berufsbilder zu schaffen. Ärztinnen, Pflegende und andere Gesundheitsberufe sollten eigentlich nur Tätigkeiten übernehmen, die ihren wirklichen (und in der Schweiz sehr hohen) Kompetenzen entsprechen – und andere Aufgaben delegieren können.
Auch Technologien wie KI-gestützte Herzultraschalluntersuchungen, die in den USA bereits zugelassen sind, können Zeit und Ressourcen sparen – ohne Qualitätsverlust.

«Ärzte verlieren kein Geld – sie gewinnen Zeit»

Viele Ärztinnen und Ärzte fürchten Einkommenseinbussen. Zu Recht?
Nein. Das Ziel ist nicht, dass Ärztinnen und Ärzte weniger verdienen. Wenn wir ineffektive, sogenannte Low-Value-Leistungen reduzieren, können wir diese Mittel für sinnvollere medizinische Arbeit einsetzen und zum Beispiel ein Arztgespräch, welches heute oft unbezahlt ist, auch besser vergüten.
Wenn das System funktioniert, lassen sich vermutlich rund 20 Prozent Kosten an low-value Leistungen einsparen und gleichzeitig faire Löhne zahlen.

«Capitation ist heute realistischer als je zuvor»

Capitation wurde schon vor Jahren diskutiert. Warum ist der Zeitpunkt jetzt besser?
Weil der Druck enorm gewachsen ist: Fachkräftemangel, steigende Unzufriedenheit des Medizinalpersonals, Überlastung durch Administration und der Wunsch, die Patientinnen und Patienten wieder ins Zentrum zu stellen. Der englische Gesundheitsminister hat vor einigen Wochen gesagt, dass, wenn wir das Gesundheitssystem weiterhin wie bisher betreiben, in 50 Jahren 100 % der Bevölkerung im Gesundheitswesen arbeiten würden – ein alarmierendes Bild, das verdeutlicht, wie dringend Veränderungen nötig sind.
«Ich bin nicht angehalten, möglichst viele Leistungen zu verkaufen, sondern kann mich darauf konzentrieren, die Patienten kohärent und qualitativ hochwertig zu betreuen.»
Viele andere Länder haben längst von einem Fee-for-Service Ansatz auf integrierte, kapitativ finanzierte Modelle umgestellt, mit hoher Qualität. Wenn wir hoffentlich die geschätzten 20 Prozent an ‘low-value’ Leistungen einsparen und gleichzeitig die Versorgung verbessern können, wäre es absurd, diese Chance nicht zu nutzen. Der Moment ist also ideal, weil die Rahmenbedingungen, die Motivation und die Technologie jetzt zusammenkommen.
Als CMO sitzen Sie zwischen Medizin, Management und Politik. Wo erleben Sie den grössten Zielkonflikt?
In einem integrierten Capitation-System sind diese Konflikte vergleichsweise gering. Ich bin nicht angehalten, möglichst viele Leistungen zu verkaufen, sondern kann mich darauf konzentrieren, die Patienten kohärent und qualitativ hochwertig zu betreuen. Finanzielle Zwänge zu einer Volumenausweitung, wie sie in einem Fee-for-Service-System bestehen, sind nicht vorhanden und die systemischen Anreize sind weitgehend mit den Patienteninteressen kongruent – vorausgesetzt man überwacht sorgfältig die Qualität, um eine Unterversorgung zu verhindern.

«Unsere Vision: weniger Kosten, bessere Versorgung»

Wie sieht das Schweizer Gesundheitssystem idealerweise in zehn Jahren aus – und welche Rolle spielt Viva Health Suisse dabei?
Ich wünsche mir ein System, das näher an die nordischen Länder rückt: starke Grundversorgung, gezielte und gebündelte Spezialisierung, Qualitätsregister und Erfassung von Outcomes.
VIVA Health Suisse kann dazu beitragen, diesen Wandel einzuleiten, hin zu einer integrierten, kapitativ finanzierten Versorgung, die weniger kostet und hoffentlich noch bessere Resultate liefert – und dies immer mit den Bedürfnissen, Wünschen und Präferenzen der PatientInnen im Fokus.
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