Gesundheitspolitik - Bevölkerungsrat versus direkte Demokratie

Ein repräsentativ zusammengesetzter Bevölkerungsrat fordert ein Bundesgesundheitsgesetz – und liefert damit ein Resultat, das vor allem eines zeigt: Der Diskussionsprozess war weniger offen, als behauptet.

, 22. April 2025 um 05:13
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Ein repräsentativ zusammengesetzter, hundertköpfiger Bevölkerungsrat fordert nach mehreren Debatten wie die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) und wie linke Gruppierungen ein Bundesgesundheitsgesetz gegen «steigende Gesundheitskosten».
Zufall, wissenschaftliche Evidenz oder Manipulation? Ich war naiv, als ich mich als Experte an einem schönen Februarsamstag in Neuenburg auf eine angeblich ergebnisoffene Diskussion mit dem Bevölkerungsrat einliess. Fühlen sich andere Experten und Mitglieder des Bevölkerungsrats nicht auch missbraucht?
«Im Bevölkerungsrat haben also knapp 50 Personen keine Ahnung vom Gesundheitswesen.»
Wie ist es möglich, dass ein repräsentativ zusammengesetzter Bevölkerungsrat mit 100 Mitgliedern nach langen Diskussionen zum Schluss kommt, dass wir im Gesundheitswesen mehr Zentralisierung, mehr Zwangsabgaben für Gesundheitsförderungskampagnen und mehr Verbote gegen steigende Gesundheitskosten brauchen? Ich kann mir das so erklären.

Der Bevölkerungsrat wurde gelenkt

Im Bericht des Expertanrats steht unter Punkt 22: «Viele Menschen wissen nicht genau, wie das Schweizer Gesundheitssystem funktioniert. Knapp die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat Schwierigkeiten, mit Gesundheitsinformationen umzugehen und sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden.»
Felix Schneuwly ist Gesundheitsexperte beim Internet-Vergleichsdienst Comparis.
Im Bevölkerungsrat haben also knapp 50 Personen keine Ahnung von Gesundheitswesen. Zu dieser Selbsteinschätzung gelangten die Ratsmitglieder nach einer Befragung durch das «Kompetenzzentrum Evaluation, Forschung und Beratung Interface». Für die thematische Vorbereitung des Bevölkerungsrats führte Interface eine Politikfeldanalyse zum Thema «steigende Gesundheitskosten» durch.
Erstens wurde das Grundwissen der Ratsmitglieder identifiziert, das den Teilnehmenden anschliessend vermittelt wurde, «um die Beratungen zu ermöglichen». Zweitens wurden «dringende Fragen oder Zielkonflikte des Themas steigende Gesundheitskosten» identifiziert, welche die Teilnehmenden dann für die Diskussionen im Bevölkerungsrat priorisierten. Im Mittelpunkt stehen laut Interface «die Zusammensetzung der aktuellen Gesundheitskosten, mögliche Treiber steigender Gesundheitskosten, relevante Rahmenbedingungen, Regulierungen, Akteure, diskutierte Reformvorschläge und Zielkonflikte».

Kostenröhrenblick

Etwas salopp formuliert hatte Interface die Aufgabe, den Mitgliedern vor dem eigentlichen Start der Debatten beizubringen, dass sie a) keine Ahnung vom Schweizer Gesundheitswesen haben und b) wo es lang geht, wenn man eine Ahnung hat und c) dass wir das Gesundheitswesen mit einem Kostenröhrenblick betrachten sollen.
Inferface hatte offensichtlich nicht den Auftrag, bei der Wissensvermittlung beim in der Bundesverfassung verankerten Subsidiaritätsprinzip zu beginnen. Gemäss Subsidiaritätsprinzip ist nämlich nicht der Staat verantwortlich für unsere Gesundheit. Wir selber, jede und jeder von uns ist es. Die Kantone sind für die medizinische Versorgung und die Patientensicherheit verantwortlich, der Bund für die soziale Krankenversicherung, damit wir im Krankheitsfall medizinisch versorgt werden, ohne uns finanziell zu ruinieren. Der gelenkte Bevölkerungsrat lieferte das gewünschte Ergebnis
«Selbst freiwillige finanzielle Anreize für gesundes Verhalten wurden als unsolidarisch und Eingriff in die persönliche Freiheit und Privatsphäre betrachtet.»
Entweder hatten die Projektverantwortlichen eine Agenda wie die SAMW oder etwas Staatskunde inklusive Reflektion der vergangenen, gesundheitspolitischen Volksabstimmungen und Abstimmungsanalysen war ihnen zu mühsam. Wahrscheinlich beides.
Meine Erfahrung als Experte an einem sonnigen Februartag in Neuenburg mit dem Bevölkerungsrat stützt diese Vermutung. Ich diskutierte zusammen mit SP-Nationalrätin Valérie Piller Carrard in der Gruppe «Anreize».

Strapazierte Solidarität

Die Diskussion war so strukturiert, dass die Ratsmitglieder sozusagen die Wahl hatten zwischen mühsamer Selbstverantwortung und bequemer Solidarität inklusive Vollkaskoversicherung. Letztere muss unbegrenzt sein, denn die Ursache der steigenden Krankenkassenprämien sind zu hohe Gewinne der Pharmaunternehmen, Privatspitäler, Krankenkassen etc. und natürlich zu hohe Managerlöhne. Selbst freiwillige finanzielle Anreize für gesundes Verhalten wurden als unsolidarisch und Eingriff in die persönliche Freiheit und Privatsphäre betrachtet, denn schliesslich müsse das Verhalten dann kontrolliert werden und man könne ja auch krank werden, wenn man gesund lebe.
«Deshalb ist unsere direkte Demokratie allemal besser als jeder noch so geschickt gelenkte Bevölkerungsrat.»
Dass die Solidarität auch strapaziert werde, wenn für die Folgen des gesundheitsschädigenden Verhaltens anderer bezahlen müsse, wollte man nicht gelten lassen. Es sei besser, wurde argumentiert, gesundheitsschädigende Produkte oder Werbung dafür zu verbieten. Auch über den Widerspruch, Belohnungen als Verhaltenssteuerung und unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre zu betrachten, gesundheitsschädigende Produkte zu verbieten hingegen nicht, wollte man nicht diskutieren, denn dann hätte man diese Widersprüche im Bericht festhalten müssen.

Bericht des Bevölkerungsrats

So erstaunt es nicht, dass im Bericht des Bevölkerungsrats nichts steht über Interessenkonflikte der Akteure und Bevölkerungsgruppen sowie widersprüchliche Erwartungen der Bevölkerung an das Gesundheitssystem, nichts über die von Interface erwähnten Zielkonflikte, nichts über Chancen und Risiken beziehungsweise Stärken und Schwächen eines nationalen Gesundheitsgesetzes oder möglichen Alternativen. Zum Glück macht sich jede und jeder diese Gedanken vor einer gesundheitspolitischen Abstimmung selbst.
Deshalb ist unsere direkte Demokratie allemal besser als jeder noch so geschickt gelenkte Bevölkerungsrat. In diesem Sinne mag der Bericht des Bevölkerungsrats die Idee eines Gesundheitsgesetzes wie die regelmässigen repräsentativen Befragungen über eine Einheitskasse als Lösung der Probleme beflügeln und in Einzelfällen wie die 13. AHV-Rente mehrheitsfähig machen. Langfristig werden wir aber mit der Mentalität: «Ich will mehr bekommen, aber nicht mehr Verantwortung tragen und bezahlen sollen andere, denn das ist Solidarität», unsere Probleme verschärfen und nicht lösen. Und durch die ideologische Bewirtschaftung verschärfter statt gelöster Probleme beflügeln Heilsbringer am rechten und linken politischen Rand. Letztere haben wir in unserer direkten Demokratie bisher noch nie gross werden lassen. Ich bin zuversichtlich, dass dies auch so bleiben wird.
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