Ist die «Barrington-Erklärung» gefährlich für Alte und Kranke?

Amerikanische Wissenschaftler wollen nicht mehr die ganze Bevölkerung vor dem Corona-Virus schützen. Gegner warnen vor der «Barrington»-Strategie.

, 7. Oktober 2020 um 12:22
image
  • coronavirus
  • usa
  • ärzte
«Great Barrington Declaration», auf Deutsch die Erklärung von Great Barrington, heisst jenes A4-Blatt, das für grosse Aufregung in Wissenschaftskreisen sorgt. Entstanden ist die Erklärung vor einigen Tagen, als das «American Institute for Economic Research» (AIER) ein Treffen von Epidemiologen, Ökonomen und Journalisten einberief, um die Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu diskutieren.

Einschränkungen sind zu teuer und ungesund

Die Unterzeichner fordern nun mit der «Barrington»-Erklärung eine neue Covid-19-Strategie: Sie möchten das öffentliche Leben nicht mehr einschränken. Die Kosten einer generellen Lahmlegung des öffentlichen Lebens seien viel zu hoch. Ihr Hauptargument: Solche Beschränkungen hätten nachteilige Auswirkungen auf die öffentliche körperliche und geistige Gesundheit, und zwar vor allem für weniger Privilegierte.
Mit künftigen Massnahmen sollen nur noch Risiko-Personen abgeschirmt werden und nicht mehr die ganze Bevölkerung vor Ansteckung geschützt werden. Konkret fordern sie: An Schulen und Universitäten soll wieder unterrichtet werden. Junge Erwachsene mit geringem Risiko sollen nicht mehr von zu Hause aus arbeiten. Restaurants und Geschäfte dürfen öffnen. Kunst, Musik, Sport und andere kulturelle Aktivitäten sollen wieder aufgenommen werden.

Ansteckung zur Immunisierung erwünscht

Als «fokussierten Schutz» bezeichnen die Wissenschaftler ihre Strategie. Das heisst: Nicht-Risiko-Personen sollen eine Ansteckung riskieren. So wollen die Wissenschaftler eine Immunisierung der Bevölkerung erreichen. Unterzeichner der Erklärung sind zwei Medizinprofessoren und eine Epidemiologie-Professorin.
Bei anderen Wissenschaftlern stösst die «Barrington»-Erklärung auf Kritik. Ein Lungenspezialist sagt: Die Strategie sei schon richtig – sie komme aber zu früh. Sobald wie bei der normalen Grippe ein Impfstoff und Medikamente zur Behandlung verfügbar seien, genüge es auch bei Covid-19, nur noch Risikopersonen zu schützen.

«Groteske Strategie»

Verfolge man diese Strategie früher, sei das sehr unklug, warnen die Gegner. Insbesondere im so genannten «SAGE-Report» von Ende September kommen britische Wissenschaftler zum Schluss: «Diese Strategie funktioniert nicht und sollte auch nicht ausprobiert werden.»
Die Ziele der «Barrington-Erklärung» seien für die nationale und die globale öffentliche Gesundheit gefährlich. Die «groteske Strategie» komme einer «Ausmerzung von Kranken und Behinderten» gleich.

Erfolgreiche Länder testen und verfolgen

Die «Independent Scientific Advisory Group für Emergencies» (SAGE) ist eine Gruppe von Wissenschaftlern, welche der britischen Regierung und der Öffentlichkeit Ratschläge dazu geben, wie in der Covid-19-PandemieTodesfälle minimiert und die Erholung Grossbritanniens unterstützt werden kann.
Sie weisen darauf hin, dass die «Barrington»-Erklärung schädlich und irreführend sei. In vielen Ländern, welche die Pandemie relativ gut bewältigen, wie etwa Südkorea und Neuseeland, werde das Virus nicht einfach wild laufen gelassen, in der Hoffnung, dass Asthmatiker und ältere Menschen zwölf Monate lang einen Ort finden, an dem sie sich verstecken können. Diese Länder würden die Strategie «Testen und Verfolgen» anwenden. Damit würden die Folgen neuer Ausbrüche verringert.
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

«Schauen Sie genau, wen Sie heiraten – das meine ich ernst.»

Seilschaften, starre Regeln und intransparente Gehälter bremsen Frauen auf dem Weg zur Chefarztposition. Rückhalt daheim ist entscheidend – und Teilzeit ist problematisch: Das sagt Susanne Renaud, Chefärztin Neurologie am Spital Neuenburg.

image

«Als Arzt nach Deutschland – warum nicht?»

Für Schweizer Assistenzärzte kann die Arbeit an einem deutschen Krankenhaus interessant sein. Die Nachfrage steige, sagt Martin Werner von DocsGoSwiss im Kurzinterview.

image

Zwei neue Ärztinnen in Hasliberg

Ab 1. Mai 2025 verstärken Dr. med. Stefanie Zahner-Ulrich und Dr. med. (SRB) Sonja Krcum Cvitic das Team der Rehaklinik Hasliberg. Mit ihren fundierten Erfahrungen in Allgemeiner Innerer Medizin bzw. Physikalische Medizin und Rehabilitation erweitern sie gezielt die medizinische Kompetenz der Klinik

image

Forschung und Praxis: Synergien für die Zukunft

Dr. Patrascu erklärt im Interview die Verbindung von Forschung und Praxis an der UFL. Er beschreibt die Vorteile des berufsbegleitenden Doktoratsprogramms in Medizinischen Wissenschaften und zeigt, wie die UFL durch praxisnahe Forschung und individuelle Betreuung Karrierechancen fördert.

image

Münchner Arzt vor Gericht wegen Sex während Darmspiegelung

Ein Arzt soll während Koloskopien 19 Patientinnen sexuell missbraucht haben. Er sagt, die Vorwürfe seien erfunden und eine Intrige.

image

Pflege- und Ärztemangel: Rekordwerte bei offenen Stellen

Die Gesundheitsbranche bleibt führend bei der Suche nach Fachkräften. Laut dem neuen Jobradar steigen die Vakanzen in mehreren Berufen wieder – entgegen dem allgemeinen Trend auf dem Arbeitsmarkt.

Vom gleichen Autor

image

«Das Inselspital ist noch lange nicht über den Berg»

Das Inselspital wartete mit guten Meldungen auf. Doch der Insel-Kritiker Heinz Locher gibt keine Entwarnung.

image

So entgehen Sie dem Hochstapler-Syndrom

Viele Ärztinnen und Ärzte überfordern sich – und glauben dann selber, dass sie über ihrem Können spielen. Das ist schlecht für die Psyche.

image

Im Schaufenster stehen vor allem unwirksame Medikamente

Bieler Ärzte schlagen eine neue Etikette für rezeptfreie Arzneimittel vor. Sie soll zeigen, wie verlässlich die Wirksamkeit nachgewiesen worden ist.