These: Es gibt tausende unentdeckte Tötungsdelikte im Gesundheitswesen

Werden viel mehr Patienten durch Ärzte und Pflegepersonal getötet als wir meinen? Die Debatte läuft jetzt in Deutschland. Denn eine Studie meldet: Jährlich könnte es tausende Opfer geben.

, 31. März 2017 um 06:08
image
  • pflege
  • forschung
Völlig unbekannt ist es ja nicht: Mit einer gewissen Regelmässigkeit tauchen Fälle auf, wo eine medizinische Fachperson mehrere Patienten getötet hat. Fälle, wo es nicht etwa um Sterbehilfe geht, sondern um Mord im juristischen Sinne. Fälle, bei denen die Boulevardzeitungen von «Todespflegern» beziehungsweise «Todesschwestern» zu schreiben pflegen. 
Auch in der Schweiz entpuppte sich ein Pflegefachmann als grösster Serienmörder der Landesgeschichte: 2005 wurde er vom Luzerner Kriminalgericht wegen 22 Mordfällen und fünf Mordversuchen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

«Beratung bei suspektem Verhalten»

In Deutschland ging nun der Psychiater Karl H. Beine der Frage nach, ob hinter diesen bekannten Fällen eine Grauzone respektive ein dunkler Bereich liegt – und wie gross dieser sein könnte.
Auslöser war, dass Bein einst selber in einer Klinik arbeitete, wo ein Pfleger Patienten getötet hatte. Und immerhin, so seine Feststellung, wurden in den letzten Jahren allein im deutschen Sprachraum zehn Tötungsserien bekannt. «Ausserdem bin ich in den vergangenen 25 Jahren häufiger um Beratung bei suspektem Verhalten gebeten worden», sagte der Psychiater im Interview mit «Die Zeit»
image
Karl H. Beine | PD Uni Witten/Herdecke
Karl Beine ist Chefarzt am St. Marien-Hospital Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Für sein neues Buch «Tatort Krankenhaus» , jetzt erschienen und verfasst mit der Wissenschaftsjournalistin Jeanne Turczynski, machte er eine Umfrage: 5055 Kranken- und Altenpfleger sowie Ärzte beteiligten sich daran. Die Kernfrage darin: «Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?» 3,4 Prozent der Ärzte, 1,8 Prozent der Altenpfleger und 1,5 Prozent der Krankenpfleger antworteten mit «Ja».

«Nicht gesichert»

Zur Kontrolle wurde auch gefragt, ob man in den vergangenen Monaten «schon einmal von einem oder mehreren Fällen» gehört habe, «bei denen an Ihrem Arbeitsplatz das Leiden von Patienten aktiv beendet wurde».
In der Ankündigung des Buches findet sich nun eine Hochrechnung dazu: Durch das Spital- oder Heimpersonal könnten in Deutschland bis zu 21'000 Menschen jährlich sterben.
Wirklich? Beine selber ist vorsichtiger, in einer Stellungnahme der Universität Witten/Herdecke sagt er: «Unsere Untersuchung besagt nicht, dass nun gesichert von vielen tausend Mord- oder Totschlagsdelikten pro Jahr in Deutschland auszugehen ist.» Denn unter den «Ja»-Antworten sei vermutlich auch eine unbestimmte Anzahl von lebensbeendenden Massnahmen, die der passiven Sterbehilfe zuzuordnen sind. Aber eben auch eine Anzahl Tötungen ohne explizite Willensäusserungen der Patienten.

Nicht unter Generalverdacht stellen

Für Karl Beine sind die Zahlen ein Anfang. Klar sei damit, dass das medizinischen Personal nicht über Generalverdacht gestellt werden kann. «Andererseits sind die Ergebnisse aber ein wichtiges Indiz dafür, dass die behaupteten Einzelfälle keine sind».
Insgesamt aber erscheint die Zahl der 21'000 Toten eher Propaganda-Getrommel. Andererseits soll der Verweis auf das grundlegende Problem sensibilisieren. Wenn es keine Einzelfälle sind, hat man es auch mit strukturellen oder kulturellen Phänomen zu tun – und da könnten auch die Patienten auf Signale achten.

«Sich darauf einstellen…»

Bei der erwähnten Opferzahl bekomme man doch Angst davor, ins Spital zu gehen, meinten die «Zeit»-Redakteure im Gespräch mit dem Psychiater: «Was würden Sie einem Leser raten?»
Beins Antwort: «Die Augen offen zu halten. Auf die Atmosphäre zu achten. Wie sprechen die Ärzte und Pfleger mit ihm? Sprechen sie überhaupt mit ihm? Er sollte sich darauf einstellen, dass Angestellte in Krankenhäusern extrem gestresst und genervt sein können. Und sich umhören, welche Klinik andere ihm empfehlen.»
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

«Ich verstehe die Ungeduld der 200'000 Pflegefachleute im Land»

Heute gehen Pflegekräfte in Bern auf die Strasse: Sie fordern die konsequente Umsetzung der Pflegeinitiative. Auch GLP-Nationalrat und Pflegefachmann Patrick Hässig ist dabei.

image

Sektionen des Pflegefach-Berufsverbands lösen sich auf

Mit etwas Wehmut nehmen die bisherigen regionalen Sektionen des Berufsverbands Abschied. Ab nächstem Jahr gibt es nur noch eine gesamtschweizerische Organisation.

image

Die meistzitierten Medizin-Forscher in der Schweiz

Besonders in Onkologie, Immunologie und Pharmakologie finden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Schweiz weltweit Beachtung.

image

ETH Zürich: Mikroroboter bringt Medikamente direkt ins Gehirn

ETH-Forschende haben einen magnetisch steuerbaren Mikroroboter entwickelt, der auch in komplexe Gefässstrukturen vordringt. Das System bringt Medikamente präzise an den Zielort – und löst sich danach auf.

image

Ein Blutstropfen Hoffnung bei Alzheimer

Neue Bluttests könnten die Alzheimer-Diagnostik revolutionieren – früher, einfacher, präziser. Sie eröffnen Chancen, das Gesundheitssystem zu entlasten und geben Patient:innen und Ärzt:innen neue Hoffnung.

image

BFS: Zahl privater Spitex-Anbieter erreicht Rekordwert

Die Zahl privater Spitex-Anbieter erreichte 2024 einen neuen Höchststand: 844 gewinnorientierte Unternehmen leisten immer mehr Pflegestunden, während gemeinnützige Organisationen Marktanteile verlieren.

Vom gleichen Autor

image

Spital heilt, Oper glänzt – und beide kosten

Wir vergleichen das Kispi Zürich mit dem Opernhaus Zürich. Geht das? Durchaus. Denn beide haben dieselbe Aufgabe: zu funktionieren, wo Wirtschaftlichkeit an Grenzen stösst.

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.