Forschung: Diese Naturstoffe könnten als Antibiotika dienen

In Bakterien schlummert ein grosses Potential für medizinische Wirkstoffe: Nun haben ETH-Forschende eine neue Klasse von Naturstoffen entdeckt, die eines Tages als Antibiotika dienen könnten.

, 21. Februar 2022 um 06:17
image
  • forschung
  • eth
  • studie
  • antibiotika
  • medikamente
Seien es Pflanzen, Tiere, Pilze oder Bakterien – jeder Organismus verfügt über eine grosse Menge an chemischen Verbindungen. Diese benötigt er, um mit der Umwelt zu kommunizieren, Partner anzulocken oder Feinde abzuschrecken. In Bakterien hat die Evolution über zig Millionen Jahre eine Fülle an komplexen chemischen Strukturen hervorgebracht.
Viele dieser Stoffwechselprodukte haben sich als potente Wirkstoffe für den Menschen erwiesen. Rund ein Drittel der heute zugelassenen Medikamente sind von Naturstoffen abgeleitet – «darunter auch die meisten Antibiotika», schreibt die ETH in ihrer Medienmitteilung.

Geheimnisvolle Bakterien

Den Bakterien ihre chemischen Geheimnisse zu entlocken, sei allerdings gar nicht so leicht. Der Grund: Viele Bakterienarten lassen sich nicht oder nur mühevoll im Labor kultivieren. Die für die Medizin interessanten Naturstoffe produzieren sie zudem oft nur in Gemeinschaft mit anderen Organismen. Mittels moderner DNA-​Sequenzierungsmethoden und Bioinformatik lasse sich die Suche nach neuen Wirkstoffen deutlich beschleunigen. 
Auf diese Weise haben nun Forscherinnen und Forscher um Jörn Piel, Professor für Mikrobiologie an der ETH Zürich, einen neuen Syntheseweg für Peptid-​Naturstoffe entdeckt, der in Bakterien weit verbreitet zu sein scheint. Die Resultate haben sie kürzlich im Fachjournal PNAS veröffentlicht.

Peptid-​Naturstoffe haben riesiges Potential

Fündig wurden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, indem sie riesige digitale Bibliotheken bakterieller Genome durchstöberten: zuerst nach Bauplänen für kleine Eiweissmoleküle (Peptide); dann nach Bauplänen für Enzyme, welche diese Peptide verändern können. Denn durch die enzymatischen Veränderungen entstehen in den Bakterien komplexe Naturstoffe mit oftmals besonderen Aktivitäten oder erhöhter Stabilität.
Weil die Baupläne der Peptide charakteristische Muster aufweisen, konnten die Forscher diese mittels Suchalgorithmen am Computer aufspüren. Der Clou ist, dass die Baupläne für solche Peptid-​Naturstoffe im Genom in kompakter Form hinterlegt sind. In unmittelbarer Nähe des Peptid-​Gens liegen auch die Gene für Enzyme.
«Weil diese Enzyme sehr unterschiedlich funktionieren, bergen Peptid-​Naturstoffe ein riesiges Potential für neue Wirkstoffe», wird  Florian Hubrich, einer der Hauptautoren der Studie, in zitiert.

Von den Bauplänen zum Naturstoff

Die Enzyme waren denn auch der Schlüssel zur neu entdeckten Naturstoffklasse: Basierend auf den Bauplänen der verschiedenen Enzyme unterteilten die Forscher die Kandidatenliste in ähnliche Gruppen. Dabei fiel auf, dass die Funktion der Enzyme in einer der grössten Gruppe noch unbekannt war.
Bei drei Naturstoff-​Kandidaten aus dieser Gruppe überprüften die Forscher die Computervoraussagen anschliessend im Labor. Sie setzten die entsprechenden Gene in Laborbakterien ein und analysierten, welche Substanzen die Mikroorganismen tatsächlich herstellten. So fanden sie heraus, dass es sich bei der neuen Naturstoffklasse um ein ringförmiges Eiweissmolekül handelt, das eine Fettsäure als Anhängsel trägt.
Mit Fettsäuren bestückte Peptide, sogenannte Lipopeptide, sind bereits als Wirkstoffe bekannt. So hat beispielsweise das Antibiotikum Daptomycin (Wirkspektrum: ausschliesslich grampositive Keime), das biotechnologisch hergestellt wird, eine sehr ähnliche Struktur. Allerdings ist die Produktion dieses Antibiotikums noch immer sehr aufwändig.
Das Bakterium, in dem das Antibiotikum hergestellt wird, produziert nämlich mehrere Naturstoff-​Varianten mit unterschiedlich langen Fettsäuren, wovon nur eine Variante als Medikament eingesetzt wird. Die Aufreinigung von Daptomycin aus den Bakterienzellen ist entsprechend mühsam. Genau hier sieht Jörn Piel den grossen Vorteil der neu entdeckten Naturstoffklasse.
Tests zur Antibiotika-​Wirkung ausstehend
Daptomycin und andere Lipopeptide werden im Ursprungsorganismus von einem riesigen, eigens dafür zuständigen Enzym aus den entsprechenden Aminosäuren zusammengebaut. Diese Riesenenyzme sind für Gentechnik-​Verfahren schwer zugänglich. Dagegen lassen sich die neuen Peptid-​Naturstoffe leichter mit gentechnisch veränderten Bakterien herstellen. Darüber hinaus lassen sich mit dieser Methode auch neue Naturstoffvarianten erzeugen.
Die Naturstoff-​Baupläne können die Forscher in wenigen Schritten gezielt modifizieren, um «massgeschneiderte» Wirkstoffe herzustellen. So können sie die Abfolge der Aminosäuren des Peptid-​Rückgrats durch Mutationen im entsprechenden Gen anpassen. Die grossangelegte Genomanalyse hat zudem viele neue Enzymkandidaten identifiziert, die sich nach dem Baukastenprinzip mit einem Peptid-​Gen kombinieren lassen.

«Gerade weil für Pharmaunternehmen oft kein finanzieller Anreiz besteht, neue Antibiotika zu entwickeln, kann die Forschung den ersten Schritt der Wirkstoffsuche übernehmen.»

Anna Vagstad, Co-​Studienleiterin
In der vorliegenden Studie haben die Wissenschaftler bereits drei Enzyme beschrieben, die jeweils unterschiedlich lange Fettsäuren mit einem Peptid verknüpfen. «Erste Versuche zeigen, dass sich solche massgeschneiderten Lipopeptide im Labor tatsächlich erzeugen lassen», sagt Anna Vagstad, Co-​Leiterin der Studie. Der nächste Schritt sei nun, die biologische Wirkung der neuen Substanzklasse zu untersuchen.
«Gerade weil für Pharmaunternehmen oft kein finanzieller Anreiz besteht, neue Antibiotika zu entwickeln, kann die Forschung zumindest diesen ersten Schritt der Wirkstoffsuche übernehmen», so Vagstad.
image
Über Cyanobakterien ist vor allem bekannt, dass sie wie grüne Pflanzen Photosynthese betreiben. Darüber hinaus produziert die Bakteriengruppe viele interessante Naturstoffe – so auch die neu entdeckten Lipopeptide. (Flickr)
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Abnehmspritzen wirken – aber unabhängige Daten fehlen

Die Datenlage bei Abnehmspritzen ist einseitig: Fast alle Studien stammen von den Herstellern selbst. Forschende warnen vor Interessenkonflikten – und fordern unabhängige Langzeitstudien.

image

Swiss Bridge Award 2025 geht an Krebsforschende aus Zürich und Berlin

Andreas Moor (ETH Zürich) und Inmaculada Martínez Reyes (DKFZ/Charité Berlin) erhalten je 250’000 Franken für ihre Arbeiten an zielgerichteten Krebstherapien – von «smarten» Proteinmolekülen bis zu personalisierten Immunzellen.

image

USZ, CHUV und USB gehören zu Europas forschungsstärksten Spitälern

Seit der Jahrtausendwende haben sich die Patentanmeldungen europäischer Kliniken verdreifacht. Schweizer Häuser spielen vorne mit.

image

J&J und der Health Science Club: Brücke zwischen Industrie und Wissenschaft

Johnson & Johnson fördert die nächste Generation von Healthcare-Innovatoren durch eine enge Zusammenarbeit mit Studierendenorganisationen der ETH Zürich und der Universität Zürich.

image

Empa-Forschende entwickeln selbsthaftende künstliche Hornhaut

Forschende der Empa und der Universität Zürich haben eine künstliche Hornhaut entwickelt, die künftig Spendergewebe ersetzen könnte.

image

«Eine frühzeitige Blutverdünnung nach einem Schlaganfall ist sicher und wirksam»

Im Interview erklärt Neurologe Urs Fischer, Chefarzt am Inselspital Bern, was die Ergebnisse der CATALYST-Studie für die klinische Praxis bedeuten – und warum alte Leitlinien überdacht werden sollten.

Vom gleichen Autor

image

Kinderspital verschärft seinen Ton in Sachen Rad-WM

Das Kinderspital ist grundsätzlich verhandlungsbereit. Gibt es keine Änderungen will der Stiftungsratspräsident den Rekurs weiterziehen. Damit droht der Rad-WM das Aus.

image

Das WEF rechnet mit Umwälzungen in einem Viertel aller Jobs

Innerhalb von fünf Jahren sollen 69 Millionen neue Jobs in den Bereichen Gesundheit, Medien oder Bildung entstehen – aber 83 Millionen sollen verschwinden.

image

Das Kantonsspital Obwalden soll eine Tochter der Luks Gruppe werden

Das Kantonsspital Obwalden und die Luks Gruppe streben einen Spitalverbund an. Mit einer Absichtserklärung wurden die Rahmenbedingungen für eine künftige Verbundlösung geschaffen.