«Wenn man als Medizinstudent zum ersten Mal ein Thorax-Röntgenbild sieht, dann ist man erstaunt, dass die grossen schwarzen Flächen die luftgefüllte Lunge darstellen und der schöne weisse Fleck den bösartigen Tumor». So schildert Brida von Castelberg, ehemalige Chefärztin für Gynäkologie im Triemlispital Zürich, ihre Erfahrungen.
Der Neuropsychologe mit dem Röntgenblick
Allerdings nicht an einem medizinischen Vortrag, sondern an einer Kunstausstellung. Doch was hat ein Lungentumor mit Kunst zu tun? Es ist der Röntgenblick. Hennric Jokeit nutzt ihn dazu, mit seinen Kunstfotografien die Welt zu zeigen.
In seinem Arbeitsalltag erforscht Hennric Jokeit mit dem gleichen Röntgenblick menschliche Gehirne. Denn Hennric Jokeit ist nicht nur Künstler, sondern auch Leiter des Instituts für Neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung an der Klinik Lengg, der Schweizerischen Epilepsie-Klinik.
Negativbilder regen das Hirn an
Wie die Röntgenbilder in der Klinik kehren seine Fotografien in der Kunst schwarz und weiss um. Es sind Negativbilder. Warum er das macht? Das hat wiederum mit seinem Beruf als Neuropsychologe zu tun: Die Kontrastumkehr führe zu einer Intensivierung des Sehprozess, sagt er.
Das ist kein Kunst-Geschwurbel, sondern wissenschaftlich belegbar: Negative sind fürs Gehirn schwieriger wahrzunehmen. Sie verändern die Aufmerksamkeit. Es muss Übersetzungsarbeit leisten. Und das verankert die Bilder besser im Gedächtnis.
Gedankenumkehr im Bild
Was einen weiteren Reiz der Negativbilder ausmacht: Wir können Negativität nur denken, nicht aber mit eigenen Augen sehen. «Wo man beim ersten Hinsehen eine offene Türe in ein helles Aussen zu sehen glaubt, ist eine dunkle Türe oder eine Wand», schildert Jokeits Berufskollegin Brida von Castelberg das Verwirrende eines der Bilder.
Als Medizinerin weiss sie: Man geht zu einer Untersuchung voller Hoffnung, dass nichts gefunden wird. Diese Hoffnung kann bestätigt - oder auch zerstört werden.
Auch für Hoffnung gibt es eine Diagnose
Jokeits Ausstellung heisst «Diagnosing Hope» und zeigt: Diagnostizieren lassen sich nicht nur schlimme Dinge wie Lungentumore - sondern auch die Hoffnung.
Hennric Jokeit (57) begann sich intensiv mit fotografischer und medizinischer Bildgebung zu beschäftigen, nachdem bei einer ihm sehr nahestehenden Person aufgrund kernspintomographischer Diagnostik (MRI) eine neurologische Erkrankung diagnostiziert wurde.
Der Arzt, der Gefühle in Bilder umsetzen kann
Jokeit hat in Ostberlin an der Humboldt-Universität Psychologie studiert. Mit dem Hirnforscher Ernst Pöppel erforschte er in München neurobiologische Grundlagen visueller Wahrnehmung. Später forschte Jokeit über die bildgebenden Diagnostik von Gedächtnis und Emotionen in Bielefeld (D) und Zürich. Seit 2001 leitet er das Institut für Neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum und ist Titularprofessor für Neuropsychologie an der Universität Zürich.
Die Ausstellung «Diagnosing Hope» in der Galerie 94 in Baden dauert noch bis zum 5. Dezember 2020.
Hennric Jokeit, Wissenschaftler und Künstler. | PD