Macht vorwärts mit der Digitalisierung

Es muss Schluss sein damit, dass Ärztinnen und Ärzte Überstunden schieben, um Formulare auszufüllen.

Gastbeitrag von Angelo Barrile, 20. Januar 2024 um 07:42
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Das Gesundheitswesen in der Schweiz hat in Sachen Digitalisierung einen enormen Nachholbedarf. Diese Erkenntnis ist mittlerweile fast überall angekommen. Wie schlimm es aber wirklich ist, überrascht auch mich als praktizierenden Mediziner immer wieder:
  • Ärztinnen und Ärzte im Spital müssen Medikationspläne, die sie von einem zuweisenden Arzt elektronisch erhalten, ausdrucken und abtippen, um sie im spitaleigenen System zu erfassen.
  • Oft sind die Systeme auch innerhalb desselben Spitals nicht kompatibel. Wenn der Wechsel von einer Klinik in die andere erfolgt, müssen Überweisungsberichte deshalb erneut erfasst werden, damit sie für die aufnehmende Klinik brauchbar sind.
  • Daneben müssen sich Spitalärztinnen und -ärzte mit vielen Rückfragen von Versicherungen befassen, die ihnen oft überflüssig erscheinen und die zudem ebenfalls noch viel zu oft in Papierform eintreffen.
Angelo Barrile ist Präsident des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO). Der Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin arbeitet in einer Sanacare Gruppenpraxis in Zürich. Von 2015 bis 2023 war er für die SP Mitglied des Nationalrats.
Diese Beispiele sind Realität und Teil des Alltags im Gesundheitswesen. Sie stammen aus einer Umfrage, die wir 2023 bei unseren Mitgliedern durchgeführt haben, um Anhaltspunkte zu erhalten, wie die Situation verbessert werden kann.
Denn für Ärztinnen und Ärzte ist diese Realität enorm frustrierend. Wir haben unseren Beruf gewählt, weil wir uns um Patientinnen und Patienten kümmern und sie behandeln möchten. Stattdessen verbringen gerade Spitalärztinnen und -ärzte mittlerweile oft weniger als ein Drittel ihrer Zeit mit Patientinnen und Patienten. Den Grossteil der Arbeit macht die Administration aus – und das kombiniert mit viel zu langen Arbeitszeiten.
«Der Sinn dieser Berichte ist oft nicht einmal erkennbar, da die zu erfassenden Daten bereits in anderen Systemen vorhanden sind.»
Ärztinnen und Ärzte schieben also Überstunden – aber nicht, weil sie am Krankenbett oder Operationstisch dringend gebraucht werden, sondern weil sie noch Formulare ausfüllen und Berichte schreiben müssen. Und der Sinn dieser Berichte ist oft nicht einmal erkennbar, da die zu erfassenden Daten bereits in anderen Systemen und teilweise sogar mehrfach vorhanden sind.
Die Auswirkungen dieses administrativen Desasters sind verheerend. Sie zeigen sich daran, dass Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf verlassen oder nach dem Studium gar nicht erst einsteigen.
Besonders eindrücklich sichtbar wurde das bei der Umfrage, die die Vereinigung der Medizinstudierenden (Swimsa) im vergangenen Jahr durchführte. Nach dem Wahlstudienjahr, in dem Studierende kurz vor Abschluss des Studiums erstmals praktische Erfahrungen im Spital sammeln, stellen sich 34 Prozent ernsthaft die Frage, ob sie überhaupt je als Arzt oder Ärztin arbeiten möchten.
Diese Zahl hat einen direkten Zusammenhang nicht nur mit der hohen Arbeitsbelastung, sondern auch mit der Art der Arbeit, die eben zu einem grossen Teil aus Administration besteht.

Besserung ist in Sicht

Diese Realität drückt nicht nur auf die Motivation des gut ausgebildeten Gesundheitspersonals, sondern sie ist auch eine enorme Fehlerquelle. Wir müssen also im Sinne des Patientenwohls und der Qualität unseres Gesundheitswesens dringend handeln.
Der Bund hat den Handlungsbedarf erkannt. Mit dem Programm Digisanté sollen genau die wunden Punkte angegangen werden, an denen das System heute krankt.
Ziel des Programms ist es, ein digitales Gesundheitswesen zu fördern, «in dem alle relevanten Daten nahtlos ausgetauscht und von allen Systemen gelesen werden können». Die inkompatiblen Systeme, die den Ärztinnen und Ärzten das Leben erschweren, sollen kompatibel gemacht werden. Bis 2034 will der Bund knapp 400 Millionen Franken in Digisanté investieren.
Das Parlament wird sich in diesem Jahr damit beschäftigen und dem Vorhaben hoffentlich keine Steine in den Weg legen.
Wir unterstützen dieses Programm sehr, werden in der Zwischenzeit aber auch unseren eigenen Weg weiterverfolgen. Wir wollen in einzelnen Spitälern dazu beitragen, punktuelle, aber spürbare Verbesserungen zu erzielen, in Zusammenarbeit mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort.
Damit möglichst bald eine Wirkung erzielt werden kann, die dringend nötig ist.

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