Die versteckte Krise: Ärztinnen sind suizidgefährdeter als Ärzte

Die Selbstmordraten bei Ärzten sinken weltweit. Aber Ärztinnen sind immer noch speziell gefährdet.

, 28. August 2024 um 09:56
letzte Aktualisierung: 21. Oktober 2024 um 08:02
image
Symbolbild: Priyanshu Rawal, Unsplash
Das «British Medical Journal» thematisiert mit einer Studie sowie einem Leitartikel jüngst die Suizidalität in der Ärzteschaft. Der Ausgangspunkt war dabei eine Meta-Studie, welche Public-Health-Forscher aus Wien und Boston erarbeitet hatten.
Dabei wählten die Forscher um Claudia Zimmermann einen doppelten Adlerblick: Erstens nahmen sie eine langfristige Perspektive, indem sie alle greifbaren Erhebungen zwischen 1960 und 2020 aufnahmen; teils berücksichtigten sie auch noch frühere Studien aus den 1930ern oder spätere Daten. Zweitens blickten in die Breite, indem sie Studien aus insgesamt 20 Ländern berücksichtigten (darunter die Schweiz).
Insgesamt 64 Forschungsarbeiten wurden am Ende ausgewertet. Sie zeigen, dass die Selbstmord-Rate der Ärzte bei beiden Geschlechtern in der langfristigen Tendenz gesunken ist – auch und gerade im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Studien aus den 1960er bis 1980er Jahren zeigten zum Beispiel regelmässig massiv überdurchschnittliche Raten; mit der Zeit erfolgte aber eine spürbare Angleichung an den Durchschnitt in den jeweiligen Gesellschaften.
Zweitens war die Suizidalität bei den Medizinerinnen signifikant ausgeprägter als bei den Medizinern: Sie lag bei den Frauen 1.76mal höher als im Bevölkerungsschnitt; bei den Männern war der Wert nur um den Faktor 1.05 höher. Für die Schweiz erhoben die Forscher einen Durchschnittswert von 1.23 – dies auf der Basis von Daten des Bundesamts für Statistik von 2008 bis 2020.
Die Ergebnisse sind insofern bemerkenswert, als normalerweise – und in den meisten Gesellschaften – die Männer klar höhere Selbstmordraten aufweisen als die Frauen.
Letztendlich ist die Suizidalität der Ärzteschaft immer noch höher als im Durchschnitt anderer Berufe mit vergleichbarem sozioökonomischem Status. Dies nicht nur wegen der erwähnten höheren Neigung zum Suizid bei Ärztinnen: Auch die Selbstmord-Rate der männlichen Ärzte lag mit 1.81 deutlich über dem Wert vergleichbarer Berufe.

Stress und Perfektionismus

Ganz überraschend ist das nicht. Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass Ärzte verstärkt zu Selbstmord neigen; dies wurde auch schon in diversen Studien zu durchschauen versucht. Zur Erklärung dienen die höhere Burnout-Gefahr und der Dauerstress; oder die Tatsache, dass sich Ärzte eher schwer damit tun, psychologische und psychiatrische Hilfe zu beanspruchen; oder der erleichterte Zugang zu gewissen Medikamenten; oder schliesslich, dass der Beruf auch Menschen mit eher heiklen Persönlichkeitszügen anzieht – etwa Perfektionismus.
Laut dem Editorial des BMJ stellt die neue Studie aber vor allem auf den Aspekt ins Rampenlicht, dass die ausgeprägte Lebensmüdigkeit bei den Ärztinnen kaum beachtet wird: Dies verlange neue Antworten. Und dies müsse noch viel intensiver untersucht werden. Mit dem Ziel, die spezifischen Ursachen zu finden und geschlechtstypische Interventionen zu entwickeln.

  • ärzte
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

«Manche haben unrealistische Erwartungen an die Schweiz»

Die Schweiz erscheint für viele ausländische Ärzte als Traumland. Was es braucht, damit der Jobwechsel gelingt, erklären die Ärztevermittler Francesca und Jan Saner.

image

Forschung und Praxis: Synergien für die Zukunft

Dr. Patrascu erklärt im Interview die Verbindung von Forschung und Praxis an der UFL. Er beschreibt die Vorteile des berufsbegleitenden Doktoratsprogramms in Medizinischen Wissenschaften und zeigt, wie die UFL durch praxisnahe Forschung und individuelle Betreuung Karrierechancen fördert.

image

Münchner Arzt vor Gericht wegen Sex während Darmspiegelung

Ein Arzt soll während Koloskopien 19 Patientinnen sexuell missbraucht haben. Er sagt, die Vorwürfe seien erfunden und eine Intrige.

image

Pflege- und Ärztemangel: Rekordwerte bei offenen Stellen

Die Gesundheitsbranche bleibt führend bei der Suche nach Fachkräften. Laut dem neuen Jobradar steigen die Vakanzen in mehreren Berufen wieder – entgegen dem allgemeinen Trend auf dem Arbeitsmarkt.

image

Im Schaufenster stehen vor allem unwirksame Medikamente

Bieler Ärzte schlagen eine neue Etikette für rezeptfreie Arzneimittel vor. Sie soll zeigen, wie verlässlich die Wirksamkeit nachgewiesen worden ist.

image

Zukunftsvisionen für die Gesundheitsversorgung

Beim Roche Forum 2024 diskutierten Expertinnen und Experten zentrale Herausforderungen der Schweizer Gesundheitsversorgung und setzten wertvolle Impulse für die Zukunft.

Vom gleichen Autor

image

Diese 29 Erfindungen machen die Medizin smarter

Das US-Magazin «Time» kürte die wichtigsten Innovationen des Jahres aus dem Gesundheitswesen. Die Auswahl zeigt: Fortschritt in der Medizin bedeutet heute vor allem neue Schnittstellen zwischen Mensch, Maschine und Methode.

image

Privatklinik Aadorf: Führungswechsel nach 17 Jahren

Die Privatklinik Aadorf bekommt einen neuen Leiter: Michael Braunschweig tritt die Nachfolge von Stephan N. Trier an.

image

Baselbieter Kantonsparlament stützt UKBB

Das Universitäts-Kinderspital beider Basel soll frische Subventionen erhalten, um finanzielle Engpässe zu vermeiden. Der Entscheid im Landrat war deutlich. Doch es gibt auch Misstrauen.