Der IV fehlen die Ärzte – weil niemand dort arbeiten will

Schlechtes Image, andere Kultur: Deshalb hat die IV so grosse Mühe, genug Ärzte und Ärztinnen für die IV-Abklärungen zu finden.

, 28. Februar 2024 um 06:57
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IV-Chef Florian Steinbacher sagte im Interview: Es fehlt an Ärzten und Ärztinnen, weil die IV für sie «nicht unbedingt attraktiv» sei. | SRF
Der Chef der IV, Florian Steinbacher, musste kürzlich in der Sendung «Kassensturz» vor der Kamera Stellung nehmen. Long-Covid-Betroffene werfen der IV vor, dass die Abklärungsverfahren viel zu lange daure.

«Nicht unbedingt attraktiv»

Steinbacher erklärte: «Wir haben generell einen Mangel an qualifizierten Gutachtern, die für die IV arbeiten möchten.» Der Grund dafür sei, dass die IV einen «recht engen Rahmen» habe - und das sei nicht unbedingt attraktiv.
Deshalb werde es auch in Zukunft schwierig sein, ausreichend Gutachter zu haben. Temporär arbeitende Ärzte aus Deutschland seien keine Lösung. «Wir brauchen Gutachter, die sich mit dem Schweizer Gesundheits- und Sozialsystem auskennen», sagte der IV-Chef. Doch was steckt hinter dieser Aussage, dass die IV für Ärzte «nicht unbedingt attraktiv» sei?

Eine andere «Kultur»

Alard Du Bois-Reymond, der damalige Vizedirektor und Leiter Invalidenversicherung ins Bundesamt für Sozialversicherung, stellte bereits vor 16 Jahren beim Aufbau der damals neuen regionalen ärztlichen Dienste (RAD) fest: «Offenbar bestehen bei Ärztinnen und Ärzten in der ‹Kultur› verankerte Erwartungen, die einem Engagement als Versicherungsarzt entgegenstehen.»
Tatsächlich ist es für Ärztinnen und Ärzte nicht einfach, sich an die «Kultur» einer Versicherung anzupassen. Zwei Ärzte schilderten zum Beispiel im «Beobachter», wie die IV-Stellen immer wieder versucht hätten, ihre Gutachten zu beeinflussen.

Schwierig: die ärztliche Unabhängigkeit

Der Psychiater und medizinische Gutachter Christoph Ettlin kritisierte: «Die IV-Stellen betrachten die Gutachter als Weisungsempfänger, denen sie nach Belieben Vorgaben machen können. Die Unabhängigkeit gegenüber der IV zu verteidigen sei «eine Daueraufgabe», findet er.
Ärzte und Ärztinnen, die für Versicherungen arbeiten wissen um das schlechte Image ihres Berufsstands und müssen damit umgehen können. Viel zu selten komme es vor, dass gute Ärzte Gutachter werden. Die Branche sei zu bürokratisch und wenig attraktiv. Oft landeten Zweitklassmediziner bei den Abklärungsstellen. So lauten die Vorurteile.

IV wirbt mit «Detektivarbeit»

Umso intensiver muss die IV um Ärzte und Ärztinnen werben, die für sie arbeiten. Mit Temporär-Medizinern aus dem Ausland, die vorübergehende einspringen, hat sie weniger gute Erfahrungen gemacht. Weil diese – wie Florian Steinbacher im TV-Interview sagte – das Schweizer Gesundheits- und Sozialversicherungssystem zu wenig kennen.
Deshalb will die IV hiesige Ärzte und Ärztinnen gewinnen: Es sei «eine spannende, vielseitige und bedeutende Aufgabe», schreibt sie auf ihrer Website. Im Arbeitsbeschrieb heisst es: «Durch eine korrekte Beurteilung verhelfen Sie Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Existenzsicherung (oder verhindern im umgekehrten Fall nicht geschuldete Leistungen). Und weiter: «In begründeten (!) Verdachtsfällen können Sie «detektivischen Spürsinn» entwickeln.

Sie müssen «abgrenzen» können

Das Spezielle an der Arbeit von IV-Ärzten sei: «Die Ärztin oder der Arzt muss abgrenzen können zwischen einer objektivierbaren Krankheit gemäss ICD-10 und Schwierigkeiten einer versicherten Person, im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit (Leistungsdenken, Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens, Verminderung familiärer und sozialer Netzwerke etc).»
Es gibt seit gut 20 Jahren auch einen Verein, der sich dafür einsetzt, dass es mehr und besser Ärztinnen und Ärzte gibt, die für Versicherungen arbeiten: die Versicherungsmedizin Schweiz (SIM).

Ein Schattendasein für Versicherungsmedizin

Der Verein ist sich bewusst: «Sowohl im Medizinstudium als auch in der fachärztlichen Weiterbildung fristet das Fachgebiet der Versicherungsmedizin ein Schattendasein.»
Das wirkt sich wiederum auf die Kompetenz und das Image der Versicherungsmediziner aus. Ein Problem ist, dass zwar diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die eine Stelle bei einem Versicherungsunternehmen antreten, intern geschult und auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Ärzte hingegen, die nebenamtlich versicherungsmedizinisch tätig werden, eignen sich die nötige Kompetenz nicht selten «on the job» an.

Gibt es dereinst einen Facharzt Versicherungsmedizin?

Die SIM will deshalb die versicherungsmedizinische Bildung fördern. Sie bietet im Rahmen der medizinischen Weiter- und Fortbildung Bildungsveranstaltungen an, welche bei der FMH akkreditiert sind. Ein Fernziel ist es, in der Schweiz einen Facharzttitel in Versicherungsmedizin einzuführen. Einen solchen Titel gibt es in den Niederlanden.
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