«Keine unserer 34 Ärztinnen und Ärzte arbeiten 100 Prozent»

«Die jungen Ärztinnen und Ärzte wollen nicht mehr das finanzielle Risiko und die unternehmerische Verantwortung übernehmen.» Das sagt Axel Rowedder. Er hat Medix Toujours an Medbase verkauft.

, 10. November 2022 um 22:35
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Axel Rowedder erklärt, warum er im Basler Stadtzentrum nach der Eröffnung einer Walk-in-Praxis auch noch eine Hausarztpraxis in Betrieb genommen hat. | cch
Herr Rowedder, warum haben Sie Medix Toujours mit ihren je zwei Walk-in- und Hausarztpraxen an Medbase und nicht ihren Ärzten verkauft?
Weil keine der 34 Ärztinnen und Ärzten dafür Interesse zeigten. In der Ärzteschaft hat ein grosser Wandel stattgefunden. Wir haben viele junge Ärztinnen und Ärzte. Viele finden bei uns die erste Stelle ausserhalb des Spitalbetriebs. Sie wollen erst mal den ambulanten Bereich testen. Da geht niemand hin und legt einen Haufen Geld auf den Tisch. Deshalb finden Hausärzte auch kaum mehr Nachfolger.
Hat keiner ihrer Ärzte seit der Gründung vor zwölf Jahren eine eigene Praxis eröffnen oder übernehmen wollen?
Doch. Das haben wir auch immer unterstützt und gefördert. Aber die meisten wollen davon nichts wissen.
Woran liegt das?
Die heutigen, jungen Ärztinnen und Ärzte wollen nicht mehr das finanzielle Risiko und die unternehmerische Verantwortung übernehmen. Sie wollen als Arzt arbeiten, sie wollen Patienten sehen. Acht Stunden am Tag. Dann möchten sie ihre Ruhe haben. Keine unserer 34 Ärztinnen und Ärzte arbeiten hundert Prozent. Das höchste Pensum ist 80 Prozent. Wir haben aber auch Mütter mit einem Pensum von 40 Prozent. All das, was selbständige Ärztinnen und Ärzte machen müssen, die ganze Mitarbeiterbetreuung, MPA's suchen, Mitarbeitende einarbeiten, Versicherungslösungen finden, Pensionskassenlösung suchen. Das sind Aufgaben, die unsere Ärztinnen und Ärzte gern abgeben.
Der Name Medix toujours suggeriert ärztliche Leistungen rund um die Uhr. Warum betreiben sie neben den beiden Walk-in-Praxen noch zwei Hausarztpraxen?
2010 haben wir die erste Walk-in-Praxis an der Centralbahnstrasse in Basel gegründet, gleich beim Bahnhof SBB. Wir haben gesagt: Wir wollen keine Hausarztpraxis. Wir wollen eine Walk-in-Praxis mit verlängerten Öffnungszeiten von morgens um 7 bis abends um 22 Uhr. Wir wollen 365 Tage im Jahr eine Anlaufstation bieten für dringliche medizinische Probleme, die nicht die Infrastruktur einer Notfallstation brauchen.
Und trotzdem führen Sie nun zwei klassische Hausarztpraxen.
Viele Leute sind immer häufiger zu uns gekommen und haben gesagt, sie fänden keinen Hausarzt. Das ging soweit, dass gewisse Patienten den Wunsch äusserten, sie möchten doch zu Frau Doktor Trutmann. Das haben wir so nicht erwartet. Also haben wir an der Küchengasse, fast nebenan, die Hausarztpraxis eröffnet. Hier betreiben wir die klassische Hausarztmedizin. Das ist so gewachsen. Das war nie so geplant. Das ist aus der Analyse des Bedarfs so entstanden.
Was kommen da für Leute in Ihre Notfallpraxis?
Ein klassisches Beispiel: Die 22-jährige, gesunde Sportstudentin hat eine Blasenentzündung. Am Freitagabend um 19 Uhr merkt sie, dass es brennt. Sie kommt nirgends mehr unter. Entweder wartet sie bis am Montag morgen, um einen Termin zu kriegen, wenn sie überhaupt einen Hausarzt hat. Dieser Patientin bieten wir mit unserem Angebot eine Alternative, damit Sie nicht auf den Notfall muss. Innerhalb von 24 Stunden ist sie beschwerdefrei und hat ein normales Wochenende.
Wenn der Spitalnotfall total am Anschlag ist, müssten auch ihre Notfallpraxen am Anschlag sein.
Das sind wir auch.
Wie hoch ist die durchschnittliche Wartezeit?
An neuralgischen Tagen können das zwei bis drei Stunden sein.
Was dann? Schicken Sie die Leute auf den Spitalnotfall?
Wenn unsere Praxis voll ist, dann ist der Spitalnotfall normalerweise erst recht voll.
Wir führen das Interview hier in ihrer Hausarztpraxis an der Küchengasse. Kommt es auch vor, dass die Notfallpraxis an der Centralbahnstrasse bei grossem Andrang Personen hierherschickt?
Ja, das kommt regelmässig vor. Wir haben auch am Bahnhof in Pratteln eine Walk-in-Praxis. Und Anfang Jahr haben wir eine Praxis an der Clarastrasse in Basel eröffnet. Alle vier Praxen sind via Internet verbunden. Jede Agenda ist einsehbar. Man kann jede Praxis anklicken und sieht auf einen Blick, was in den anderen Praxen gerade abgeht, wie viele Patienten warten. Man kann sehen, wo es noch Lücken gibt.
Kommt es vor, dass eine Patientin von Basel nach Pratteln geschickt wird?
Wir schicken niemanden nach Pratteln. Wir machen dem Patienten höchstens ein Angebot, nach Pratteln zu gehen, wenn an der Centralbahnstrasse die Wartezeit anderthalb oder noch mehr Stunden dauert, und in Pratteln gerade nicht viel los ist.
Wie häufig wird ein solches Angebot angenommen, einmal pro Woche?
Nein, nein. Zwei-, dreimal am Tag. Mit der S-Bahn ist man in 8 Minuten in Pratteln. Mittlerweile kommt es auch vor, dass Leute vorher anrufen und sich erkundigen, wo es gerade günstiger sei: in Basel oder in Pratteln.
Man sagt, die Notfälle seien auch wegen der vielen Migranten am Anschlag, weil diese das Hausarztsystem nicht kennen und sich gewohnt sind, bei jedem Bobo das Spital aufzusuchen. Gilt das auch bei Ihnen?
Natürlich spüren wir das. Aber mich stört diese Diskussion. Man muss sehen, dass unser klassisches Hausarztsystem für Ausländerinnen und Ausländer hohe Hürden hat. Die Zugangsschwelle ist relativ hoch. Auf der anderen Seite ist die Niederschwelligkeit von Notfallaufnahmen relativ tief.
Was müsste getan werden, um die Zugangsschwelle zu senken?
Wir müssen zwischen Hausarzt und Grundversorger unterscheiden. Die älteren Patienten mit ihren medizinischen, altersbedingten Problemen sind beim Hausarzt gut aufgehoben. Aber zwischen der Hausarztmedizin mit der älteren Kundschaft und der universitären Spital- und Notfalldienste gibt es eine Riesenlücke, die von Grundversorgern abgedeckt werden sollten. Da sind alle drin: all die Studenten, Praktikanten, Ausländer, jungen Leute, frisch Zugezogene, Touristen, auch Frauen, die zwar einen Gynäkologen, aber keinen Hausarzt haben. All die Menschen, die grundsätzlich gesund sind, aber eines Morgens mit einer dicken Angina aufwachen. Sie sagen sich: Was mach ich jetzt?
Sie gehen zum Hausarzt.
Eben nicht. Sie haben gar keinen. Nehmen wir ein Beispiel, Herr Chatelain. Angenommen, Sie sind 25, in Bern grossgeworden und haben eine Stelle bei der BAZ in Basel. Sie kommen daher, beziehen eine Wohnung im Gundeli oder beziehen eine WG. Und dann begeben Sie sich doch nicht als erstes auf die Suche eines Hausarztes. Falls doch, fragt dieser: Sind Sie krank? Sie sagen «nein». Dann sagt der Arzt: «Kommen Sie wieder, wenn Sie krank sind.»
Ok. dann rufe ich den Hausarzt an, wenn ich krank bin.
Und dieser sagt Ihnen: Sorry, ich nehme keine neuen Patienten mehr. Oder er sagt: Ich habe erst nächste Woche eine Lücke. Sie aber wollen und können nicht warten. Also gehen Sie in eine Notfallpraxis, eben zum Grundversorger.
Von diesen gibts aber nicht genug.
Sag ich ja. Das ist das Problem.
Wenn es an der privaten Initiative fehlt, müssten doch Kantone den Spitälern einen Leistungsauftrag erteilen, damit sie solche Notfallpraxen ausserhalb der teuren Spitalinfrastruktur betreiben.
Das wird ja auch gemacht. Doch meistens scheitern diese Projekte. Spitalprozesse können nicht eins zu eins in den ambulanten Bereich übertragen werden. Spitalmedizin, auch ambulante Spitalmedizin, sind ein anderes Universum als hausärztliche Grundversorgung.
Keine erhellenden Aussichten.
Immerhin haben wir nun unsere Firma an Medbase verkaufen können, die das Angebot so weiterführt und womöglich noch ausbauen wird.
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