«Wir sind nicht mehr bereit, das zu akzeptieren»

Diese Woche protestiert das Pflegepersonal schweizweit für bessere Arbeitsbedingungen. Im «Medinside»-Interview sagt eine erfahrene Pflegefachfrau, was sich aus ihrer Sicht ändern muss.

, 26. Oktober 2020 um 14:33
image
  • pflege
  • pflegeinitiative
  • lohn
  • spital
  • pflegeheim
Myriam Gerber-Maillefer, Sie arbeiten als Pflegefachfrau – wie erleben Sie die Corona-Pandemie?
Ich arbeite in einem Grossspital in einer ambulanten Station mit chronisch krebskranken Menschen. Unsere Patientinnen und Patienten müssen auch in Corona-Zeiten zu uns kommen. Deshalb hatten wir weniger Schwankungen als andere Abteilungen. Doch es sind stressige Zeiten. Erst hatten wir zu wenig Schutzmaterialien, auch waren viele unserer Patientinnen sehr verängstigt. Das war stressig und sorgte unter dem Strich für einen Mehraufwand. Nach der der ersten Welle hat sich die Situation etwas normalisiert. Die Patienten wussten nun, wie sie sich verhalten mussten - und wir hatten nun genügend Material. Aber wir haben sowieso immer viel zu tun. Ausruhen konnten wir uns deshalb nicht, bevor nun die zweite Welle kommt.
Im Frühling hatte die Bevölkerung für das Gesundheitspersonal und die Pflege geklatscht. Wie fanden Sie das?
Uns hat es sehr gut getan, überhaupt mal wahrgenommen zu werden. Schön auch, dass unsere Wichtigkeit für das Gesundheitswesen erkannt wird. Doch auf unsere Forderungen und Wünsche wurde nicht eingegangen. Man ist weiter dabei, uns mit netten Worten abzuspeisen. Im Spital, in dem ich tätig bin, wurden immerhin Minusstunden gestrichen, die sich auf wegen Corona geschlossenen Stationen summiert hatten. Nun wurde kommuniziert, dass das nach der zweiten Welle nicht möglich sei. Gleichzeitig wird von uns ganz grundsätzlich immer mehr Flexibilität abverlangt.
Können Sie ein Beispiel geben?
Wir werden immer mehr sehr kurzfristig zu Diensten aufgeboten, die nicht im Dienstplan stehen. Das war schon länger so – aber in den letzten zwei Jahren hat das ein sehr problematisches Ausmass angenommen. Wir sollen immer öfter auf Abruf arbeiten. Dies wird aber nicht bezahlt und ist gemäss unserem GAV so auch nicht erlaubt. Wir sich nicht mehr bereit, das zu akzeptieren.
Was sind denn die Gründe für diese Verschlechterung?
Wegen den laufenden Sparmassnahmen haben die Spitäler kein Reservepersonal mehr. Wenn der Arbeitsaufwand steigt oder jemand ausfällt, hat man dann ein Problem. Dann müssen diejenige mehr arbeiten, die da sind. Das erschöpft auf Dauer. Auch weil sonst vieles nicht gut läuft.
Was denn?
Wir müssen bei der Pflegequalität immer mehr Abstriche machen. Darunter leiden die Patientinnen und Patienten – und die Kosten steigen. Ein Beispiel: Uns fehlt die Zeit, Patientinnen und Patienten anzuleiten, wie sie selber zuhause Wunden pflegen können. Das ist für sie ein Problem, sorgt aber auch für Folgekosten. Auch müssen wir immer öfters sachfremde Arbeiten machen – Sekretariatsaufgaben oder administrative Dinge für die Ärzteschaft. Nicht zuletzt deshalb haben wir immer weniger Zeit für die Patienten. Die Pflege muss gleichzeitig all diese Mängel ausgleichen. Denn wir sind am nächsten bei den Patienten und Angehörigen und spüren als erstes, wo im System der Schuh drückt.

Zur Person

Myriam Gerber-Maillefer ist seit über 25 Jahren als Pflegefachfrau tätig. Sie verfügt über Fachexpertise und einem MAS in Onkologie. Sie arbeitet an einem Berner Grossspital.
Diese Woche haben die Pflegefachkräfte zur Protestwochen erklärt.
Ja, wie gesagt können wir das alles nicht mehr akzeptieren. Kommt dazu, dass es mit der von uns eingereichten Pflegeinitiative nicht vorwärts geht. Mit dieser wollen wir Versorgung und Patientensicherhit sicherstellen. Es braucht mehr Mittel für Stellen und Ressourcen. Doch es harzt im Parlament. Wir wurden immer wieder vertröstet.
Was ist diese Woche geplant?
Ich gehöre nicht zum Organisationskomitee, daher kenne ich nicht alle Aktionen. Was klar ist: Wir wollen zeigen, wo der Schuh drückt. Da wir nicht auf den Bundesplatz können, sind wir vor allem auch online präsent. Wir machen aber auch kleinere Aktion vor den Spitälern. Wir wollen die Bevölkerung aufklären, dass es in der Pflege 5 vor 12 ist – ja sogar eher schon 12 Uhr. Nun muss auf der politischen Ebene endlich etwas gehen.
Was sind die konkreten Forderungen?
Wie gesagt braucht es mehr Geld für Ausbildung und Stellen. Zudem wollen wir auch entsprechend unserer Ausbildung tätig sein. Wir könnten vieles selbstständig machen, aber die verkrusteten Hierarchien verhindern das. In der Schweiz sind wir noch weit weg von Pflegefachkräften, die ihr Potenzial ausschöpfen können. Wenn wir das könnten, würde das Gesundheitsbudget um jährlich rund zwei Milliarden Franken entlastet, wie Studien zeigen. Jeder Franken, der in qualifiziertes diplomiertes Pflegefachpersonal investiert wird, kommt um ein Vielfaches zurück.
Was müsste sich bei den Arbeitsbedingungen verändern?
Es muss honoriert werden, dass wir Schichtbetrieb haben. Ich arbeite seit fast dreissig Jahren in meinem Beruf. Die Zulagen sind aber immer noch praktisch gleich wie damals. Das ist diskriminierend. Aber der Lohn ist auch grundsätzlich zu tief. Andere vergleichbare Berufsgruppen verdienen mehr. Dass wir schlecht bezahlt sind, liegt wohl auch daran, dass die Pflege ein Frauenberuf ist und zudem personalintensiv. Doch wenn man will, dass mehr Menschen den Pflegeberuf ergreifen, braucht es Lohnerhöhungen.
Eine der Forderungen der Protestwochen ist ein zusätzlicher Monatslohn wegen der Coronakrise. Teilen Sie dieses Ansinnen?
Bisher sprach ich von den allgemeinen Arbeitsbedingungen, die ungenügend sind. Corona kommt da noch dazu. Für die Zusatzleistungen und die Gefährdung, der das Personal nun ausgesetzt ist, braucht es diesen zusätzlichen Monatslohn.
Was bekommen Sie für Rückmeldungen?
Von Patientinnen und Patienten bekommen wir vermehrt Rückmeldungen, dass es richtig sei, dass wir uns wehren. Das ist schön. Von den Spitäler heisst es schlicht: «Wir haben kein Geld, wir können uns das nicht leisten.» Wenn wir dann aber sehen, dass in den Chefetagen Boni ausgezahlt werden und es zu Lohnerhöhungen kommt, ist das stossend. 
Hier finden sich weitere Informationen zur Protestwoche.
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Kantonsspital Aarau holt Chef Neuroradiologie aus St. Gallen

Pasquale Mordasini übernimmt die vakante Chefarzt-Position im November.

image

4-Tage-Woche in der Pflege: Ernüchterndes Ergebnis

Ein deutsches Spital führte neue Arbeitszeit-Angebote ein. Nach der Anfangseuphorie kam der Alltag.

image

Viktor 2023: «Ich freue mich auf die Bekanntgabe der Gewinner»

Hirslanden-CEO Daniel Liedtke ist in der Jury des Viktor Awards, zugleich unterstützt die Spitalgruppe die Aktion bereits zum zweiten Mal. Weshalb, sagt er im Interview.

image

Bern: 100 Millionen, um die Spitäler zu stützen

Die Kantonsregierung plant einen Finanzschirm, damit Listenspitäler im Notfall gerettet werden können.

image

LUKS Luzern: Neuer Leiter des Radiologie-Zentrums

Alexander von Hessling ist seit 2015 am Institut für Radiologie und Nuklearmedizin des LUKS und hat die Sektion für Neuroradiologie aufgebaut.

image
Die Schlagzeile des Monats

«Es kann ja nicht sein, dass die Kernkompetenz der Jungen die Administration ist»

In unserer Video-Kolumne befragt François Muller jeweils Persönlichkeiten aus der Branche zu aktuellen Fragen. Diesmal: Michele Genoni, Präsident der FMCH.

Vom gleichen Autor

image

Covid-19 ist auch für das DRG-System eine Herausforderung

Die Fallpauschalen wurden für die Vergütung von Covid-19-Behandlungen adaptiert. Dieses Fazit zieht der Direktor eines Unispitals.

image

Ein Vogel verzögert Unispital-Neubau

Ein vom Aussterben bedrohter Wanderfalke nistet im künftigen Zürcher Kispi. Auch sonst sieht sich das Spital als Bauherrin mit speziellen Herausforderungen konfrontiert.

image

Preisdeckel für lukrative Spitalbehandlungen?

Das DRG-Modell setzt Fehlanreize, die zu Mengenausweitungen führen. Der Bund will deshalb eine gedeckelte Grundpauschale - für den Direktor des Unispitals Basel ist das der völlig falsche Weg.