Gleiches Medikament, verschiedene Nebenwirkungen

Die Pharma-Hersteller melden den Behörden ganz andere Risiken und Nebenwirkungen – je nachdem, wo sie eine Arznei anmelden. Die Unterschiede sind massiv.

, 31. März 2016 um 09:15
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Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage – in Amerika. Dies ein Tipp, den man aus einer jetzt veröffentlichten Erkenntnis abzuleiten geneigt ist. Diese besagt: In Amerika geben die Medikamentenfirma andere Nebenwirkungen bekannt als in Europa. Wobei sie in den USA drastisch mehr adverse reactions bekanntgeben als hierzulande.
Wie das? Statistiker und Epidemologen aus London und Bielefeld nahmen 12 Markenmedikamente, die sowohl in Europa wie in Nordamerika auf dem Markt sind; mit dabei waren auch die Novartis-Produkte Tegretol, Trileptal und Anafranil, aber kein Roche-Medikament. 
Dann verglichen Cornelius et al die Nebenwirkungen, welche einerseits bei der European Medicines Agency, andererseits bei der amerikanischen FDA eingereicht worden waren. Bei den beobachteten Arzneien handelte es sich um Antidepressiva und krampflösende Mittel.

Victoria R. Cornelius, Kun Liu, Janet Peacock, Odile Sauzet: «Variation in adverse drug reactions listed in product information for antidepressants and anticonvulsants, between the USA and Europe: a comparison review of paired regulatory documents», in: BMJ Open, März 2016.

Die Unterschiede waren schlicht gewaltig: Im Schnitt gaben die Hersteller bei jedem Medikament in den USA 77 Nebenwirkungen und Risiken mehr an als in Europa. Oder anders ausgedrückt: 71 Prozent der Nebeneffekte, welche in Washington eingereicht wurden, gaben die Hersteller in Europa nicht bekannt; wobei die Unterlagen in über vier von fünf Fällen auch Risiken aufzeigten, die lediglich in Einzelfällen aufgetreten waren.
Und so kam unterm Strich heraus, dass weniger als ein Drittel der Nebeneffekte bei beiden Behörden erwähnt worden waren.

Was heisst: alle?

Natürlich gibt es dafür Gründe. Die naheliegendste Erklärung bilden die grösseren Prozessrisiken in den USA, verbunden mit den aggressiveren Überwachungsbehörden. Dies dürfte die Hersteller dort zur Übervorsicht verleiten.
Der springende Punkt ist allerdings, dass die Anforderungen auf beiden Seiten des Atlantik ganz gleich wären – im Prinzip. Die Richtlinien verlangen, dass die Hersteller alle adverse drug reactions mitteilen. Was, nach wissenschaftlichen Erklärungen, eigentlich bedeuten würde, dass es in den USA stets gleich viele sind wie im EU-Raum.

Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen

Die Nebeneffekt-Informationen sollten nicht vom Standort der verschreibenden Ärzte und der Patienten abhängen, meinte denn auch Lead-Autorin Victoria Cornelius vom Londoner Imperial College: «Ohne diese Information können die verschreibenden Ärzte ihre Patienten nicht ausreichend über die Gesamtheit der Risiken eines Medikaments informieren», so Cornelius gegenüber dem Online-Dienst «Stat».
Allerdings kann man nicht automatisch ableiten, dass die Standards in Europa schlechter, die Mittel riskanter oder die Überwachung hier lockerer ist. Victoria Cornelius erinnerte auch daran, dass es kaum im Interesse der Patienten sein dürfte, wenn Reaktionen aus klinischen Tests gemeldet werden, die nicht nachweisbar im Zusammenhang mit dem Medikament stehen. Am Ende sehe man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.
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