Rechtsprofessor stellt kritische Fragen zur Medizin

In der Schweiz werden immer mehr Patienten am Lebensende mit starken Medikamenten ruhiggestellt. Ist das legal, fragt ein Rechtsexperte.

, 8. Juni 2022 um 07:43
image
  • spital
  • ärzte
  • recht
Daniel Hürlimann ist kein Mediziner, sondern Professor für Rechtsinformatik und IT-Recht an der Berner Fachhochschule (BFH). Und trotzdem beschäftigt er sich mit medizinischen Behandlungen.

Nur das letzte Mittel

In seinem neuen Buch «Recht und Medizin am Lebensende» wirft er kritische Fragen zur so genannten «kontinuierlichen tiefen Sedierung» auf. Bei dieser Behandlung werden Patienten mit dem überwachten Einsatz von Medikamenten so stark ruhiggestellt, dass sie bewusstlos werden. Damit soll ihnen starkes Leiden erspart werden. Meistens werden die Medikamente verabreicht, bis die Patienten sterben.
Hürlimann hat festgestellt, dass die kontinuierliche tiefe Sedierung von Patienten in der Schweiz stark zugenommen hat. Dies, obwohl diese Art von Ruhigstellung eigentlich keine medizinische Standardmassnahme ist, sondern das letzte Mittel zur Linderung von Symptomen. Bei einer tiefen Sedierung wird das Bewusstsein so stark vermindert, dass verbales Kommunizieren nicht mehr möglich ist.

Verkürzt es das Leben oder nicht?

Dem Autor ist dabei ein weiterer Widerspruch aufgefallen: Die allgemeine Wissenschaftsliteratur bestreitet, dass die kontinuierliche tiefe Sedierung das Leben verkürzen könne. In der Schweiz hingegen sehen Ärztinnen und Ärzte hingegen durchaus einen Zusammenhang zwischen tiefer Sedierung und kürzerer Lebenserwartung.
Daniel Hürlimann stellt deshalb zwei provokative Thesen auf: Heisst das, dass die kontinuierliche tiefe Sedierung in der Schweiz häufig nicht nach den Regeln der Kunst durchgeführt wird? Oder wird mittels der kontinuierlich tiefen Sedierung gezielt Leben verkürzt? Wäre letzteres der Fall, käme das einer verdeckten Form der Tötung auf Verlangen oder sogar der Tötung ohne entsprechendes Verlangen gleich, kommt er zum Schluss.

Es bräuchte neues Recht...

Sollte sich diese Mutmassung mit der gezielten Verkürzung des Lebens erhärten, müsste die kontinuierliche tiefe Sedierung als Tötung auf Verlangen gewertet werden und wäre strafbar – ausser man würde in einer neuen Rechtsprechung festlegen, dass die Tötung auf Verlangen mittels Sedierung unter gewissen Voraussetzungen zulässig sein soll.

...oder bessere Ausbildung

Würden Untersuchungen jedoch zeigen, dass die kontinuierlich tiefe Sedierung nicht bewusst zur Verkürzung des Lebens eingesetzt wird, wäre dies ein Hinweis darauf, dass die kontinuierliche tiefe Sedierung häufig nicht nach den Regeln der Kunst durchgeführt wird. In diesem Fall müsste bei der Aus- und Weiterbildung des Gesundheitspersonals angesetzt werden.
In der Schweiz wird die tiefe und kontinuierliche Sedierung auch als palliative oder terminale Sedierung bezeichnet - jedoch ausdrücklich von der Sterbehilfe abgegrenzt. Sie dient zur Symptomkontrolle und soll Leiden lindern, etwa bei massiver Angst vor dem Ersticken. Sie darf nicht zum Tod führen.

Nur in extremen Ausnahmefällen angewandt?

Ein Mittel, das häufig dazu verwendet wird, ist Midazolam, ein Beruhigungsmittel, das vor allem auch in der Anästhesie eingesetzt wird, um Patienten vor und während Operationen ruhig zu stellen.
Als kontinuierliche und tiefe Ruhigstellung sollte es aber nur in extremen Ausnahmesituationen zur Anwendung kommen. Das heisst, wenn die Erkrankung irreversibel ist und so weit fortgeschritten, dass der Tod innerhalb weniger Stunden oder weniger Tage zu erwarten ist.

Auch Sterbefasten könnte Rechtsfrage werden

Neue Rechtsfragen wirft Daniel Hürlimann auch bei einem zweiten Problem auf: Nämlich beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Diese Methode könnte sich als Alternative zum Suizid durch Einnahme einer tödlichen Substanz erweisen. Würde sich herausstellen, dass diese Methode tatsächlich ein leidensfreier Weg zur Beendigung des Lebens ist, dann würde sich schnell einmal folgende Rechtsfrage für Ärzte stellen: Sollen oder dürfen Sie bei dieser Methode zur Beendigung des eigenen Lebens mitwirken. Und wenn ja: In welcher Weise?
Derzeit ist allerdings noch umstritten, ob diese Methode tatsächlich ein leidensfreies Sterben ermöglicht, solange der Sterbeprozess noch nicht begonnen hat.

Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Spital Lachen rückt die Gefässmedizin ins Zentrum

Gefässerkrankungen sind verbreitet und können Menschen jeden Alters betreffen. Unbehandelt können schwerwiegende Komplikationen wie Gefässverschlüsse oder Organschäden folgen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist essenziell – genau hier kommt das Gefässzentrum des Spitals Lachen ins Spiel.

image

Die digitalisierte Patient Journey in der Lindenhofgruppe

Die digitale Patient Journey ist in Schweizer Spitälern etabliert. Sie erleichtert Patient:innen die Planung, Vorbereitung und Begleitung rund um den Spitalaufenthalt und entlastet das medizinische Personal – besonders bei psychisch belastenden Situationen im Vorfeld.

image

Frankreichs Gesundheitssystem kommt vor Gericht

Nach mehreren Suiziden in Krankenhäusern klagen Angehörige und Gesundheitsprofis gegen französische Minister. Der Vorwurf: Totschlag – weil das Spitalsystem in einem untragbaren Zustand sei.

image

Alles was Recht ist in der Medizin

Den neuen Leitfaden für Rechtsfragen im ärztlichen Alltag gibt es nun kostenlos im Internet.

image

Bundesgericht sieht keine Zwangsmedikation

«Pharmawaffen»: Ein Pflegeheim-Bewohner beschwerte sich darüber, dass ihm das Neuroleptikum «Xeplion» ohne Einwilligung verabreicht werde.

image

Oberarzt zuwenig beaufsichtigt: Chefärztin mit 10’000 Franken gebüsst

Darf eine Chefärztin bestraft werden, weil ein Oberarzt fragwürdige Theorien in die Therapie einbringt? Das Bundesgericht schafft Klarheit: Wer medizinische Verantwortung trägt, muss auch leitende Ärzte überwachen.

Vom gleichen Autor

image

«Das Inselspital ist noch lange nicht über den Berg»

Das Inselspital wartete mit guten Meldungen auf. Doch der Insel-Kritiker Heinz Locher gibt keine Entwarnung.

image

So entgehen Sie dem Hochstapler-Syndrom

Viele Ärztinnen und Ärzte überfordern sich – und glauben dann selber, dass sie über ihrem Können spielen. Das ist schlecht für die Psyche.

image

Im Schaufenster stehen vor allem unwirksame Medikamente

Bieler Ärzte schlagen eine neue Etikette für rezeptfreie Arzneimittel vor. Sie soll zeigen, wie verlässlich die Wirksamkeit nachgewiesen worden ist.