Mehr Kompetenzen für die Pflege: Weshalb der Bundesrat falsch rechnet

Mindestens 80 Millionen würde es kosten, wenn Pflegefachpersonen gewisse Entscheide ohne ärztliche Aufsicht fällen könnten: Dies behauptet der Bundesrat. Pflegefachmann Florian Lüthi widerspricht: Die Praxis sieht anders aus.

, 11. Mai 2016 um 12:57
image
Seit dem 27. April ist es amtlich: Die sogenannte Initative Joder, welche die eine «gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege» fordert, wird vom Bundes- und Nationalrat abgelehnt. Jetzt bereitet der schweizerische Berufsverband der Pflegefachpersonen SBK eine Volksinitiative vor, um dem Anliegen doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.
Die Gegner des Anliegens befürchten insbesondere eine Mengenausweitung sowie eine fehlende Kontrolle der pflegespezifischen Leistungen. Also absurderweise genau jener Leistungen, welche diplomierte Pflegefachpersonen in der Praxis selbständig einschätzen, primär der bei der Spitex (ambulant), aber auch in Alters- und Pflegeheimen.
  • image

    Der Autor

    Florian Lüthi ist diplomierter Pflegefachmann sowie Mitglied des SBK und arbeitet in einer psychiatrischen Klinik. Er politisiert für die GLP und ist unter anderem Mitglied der Schulkommission für Sonderschulen und weitere gesamtstädtische sonderpädagogische Angebote der Stadt Zürich.

Der Bundesrat hatte zuvor einen Bericht veröffentlicht, in dem er Mehrkosten von 30 Millionen Franken in den Heimen und von mindestens 50 Millionen in der ambulanten Pflege voraussagte, wenn die Pflegefachleute – wie die «Initiative Joder» es verlangt – mehr Entscheide ohne ärztliche Aufsicht fällen können.
Die Frage, die sich hier jedoch stellt, lautet: Warum sollten diplomierte Pflegefachpersonen neu höhere Kosten für den Pflegebedarf errechnen? Wieso sollte es ohne ärztlichen Auftrag mehr Spitexverordnungen mit höherem Aufwand geben?

Der Irrglaube der ärztlichen Gatekeeper

Gerade auch Santésuisse kann keine Begründung liefern, warum dies passieren würde; der Branchenverband der Krankenversicherer ist eine wichtige Quelle für die Stellungnahme des Bundesrates. Da stellt sich auch die Frage, wie solch eine esoterische Wahrsagerei in den Bericht kommt.
Faktisch ist es heute schon so, dass der Pflegebedarf in den Heimen und bei der Spitex von den Pflegenden festgelegt wird. Und manch ein Hausarzt bestätigt, dass er oft Spitexverordnungen einfach unterschreibt und da nicht als «Gatekeeper» fungiert.

Gegen bürokratische Hürden

Denn wie bei den Hausärzten, die ja den Grossteil der Verordnungen von diplomierten Pflegenden unterschreiben, herrscht auch beim Pflegefachpersonal ein erheblicher Fachkräftemangel. Entsprechend haben weder Hausärzte noch Pflegende ein Interesse an unnötigen bürokratischen Hürden – und der Zwang zur ärztlichen Verordnung jeder pflegerischen Massnahme ist solch eine Hürde.
Beide Berufsgruppen folgen auch dem Motto «So viel wie nötig, so wenig wie möglich.» Warum?
Weil nur Patienten, die in ihrer Selbständigkeit und Gesundheit gefördert werden, diese auch erhalten oder ausbauen können. Jeder bürokratische Aufwand sorgt für Verzögerungen in der Behandlung von Patienten, für weniger Zeit am Patientenbett und schlussendlich für höhere Prämien aufgrund des Mehraufwandes von Ärzten sowie Pflegenden.

Kontrollen dürfen kein Selbstzweck sein

Kontrollen dürfen kein Selbstzweck sein, sondern sie müssen auch primäre Aufgaben erfüllen, etwa indem sie eine Informationsgrundlage bieten. Falls der Bundesrat, die Politiker sowie und Versicherungen dies nicht begreifen und ernst nehmen, werden die Kosten steigen.
Und zwar nicht nur wegen der demographischen Entwicklung. Sie werden steigen wegen dem Mangel an Fachpersonen, den bürokratischen Hürden und dem Unverständnis für pflegerische Tätigkeiten.

Internationaler Tag der Pflege

Am morgigen 12. Mai feiern Pflegefachpersonen in der Schweiz und auf der ganzen Welt den internationalen Tag der Pflege. 
In verschiedenen Städten und Gemeinden, auf Plätzen, oder in Institutionen wie Spitälern und Pflegeheimen finden Anlässe statt, um den zentralen Beitrag der professionellen Pflege an die Gesundheitsversorgung aufzuzeigen.
Das Motto zum diesjährigen Tags der Pflege heisst «Professionelle Pflege – die Basis für ein tragfähiges Gesundheitswesen». Es weist darauf hin, dass Pflegefachpersonen dank ihrer Ausbildung und dank ihrer patientenzentrierten Arbeitsweise einen wesentlichen Beitrag zu einer qualitativ guten und finanziell tragbaren Gesundheitsversorgung leisten. 
Bei dieser Gelegenheit veröffentlicht der Berufsverband SBK auch einen Pencast: «Was ist professionelle Pflege?» Der Berner Cartoonist Max Spring zeichnete die Geschichte von Tobi, der mit dem Velo verunfallt und dank der fachkompetenten Betreuung durch Pflegefachpersonen im Spital und in der ambulanten Pflege zu Hause wieder auf die Beine kommt.
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image
Gastbeitrag von Michael Jordi

Qualität ist keine Glaubensfrage

Bei der Qualität im Gesundheitssystem wird nicht zu viel gesteuert und vereinheitlicht – sondern eher zu wenig. Viele Akteure wollen einfach ihr eigenes Messsystem als Standard sehen.

image

Weniger Bürokratie in der Pflege

Der Bundesrat sollte die Bürokratie in der Pflege abbauen. Er hält aber nichts davon.

image

Efas: Das Referendum ist am Ziel

Das Volk wird voraussichtlich im September über die neue Gesundheits-Finanzierung abstimmen.

image
Gastbeitrag von Felix Schneuwly

Ein Gruss aus der sozialistischen Planwirtschaft

Unklare Ziele, diffuse Verantwortung, aber viel Bürokratie: Der Qualitätsartikel im KVG ist ein fehlkonstruiertes Monster.

image

Das Dahlia-Pflegeheim in Huttwil geht zu

Dahlia kürzt im Oberaargau ihr Pflegeangebot um 55 Plätze. Entlassungen sind aber nicht vorgesehen.

image

Bericht: Bundesrat will Arbeitsbedingungen in der Pflege detailliert regeln

Geprüft wird unter anderem eine Spannbreite der Arbeitszeit, eine Ankündigungsfrist für Dienstpläne oder mehr Geld für Kurzfrist-Einsätze.

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.