Kein Arzt, «dem auch Linke und Grüne vertrauen»

Ein Augenarzt will beim Ausfüllen des Wahlzettels helfen, der ehemalige Tessiner Kantonsarzt Ignazio Cassis wird in Gesundheitsfragen als zu «radikal freisinnig» kritisiert: Wenn Ärzte auch Politiker sind, kann das zum Problem werden.

, 20. März 2019 um 15:18
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Eigentlich hat das Vergehen des SVP-Kandidaten für den Zürcher Kantonsrat nichts mit seiner Tätigkeit als Arzt zu tun – würde er nicht mit dem Slogan «Der Arzt, dem auch Linke und Grüne vertrauen» für seine Politik werben.
Nun wirkt der Spruch nur noch unfreiwillig ironisch. Denn der Augenarzt Stefan Locher, der in Zürich in der Klinik Pyramide zum See tätig ist, hat sich in einem Jux-Telefongespräch möglicherweise der Anstiftung zum Wahlbetrug schuldig gemacht. Jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft eine Voruntersuchung eröffnet.

«Sehr gerne auch gleich für Frau und Sohn ausfüllen»

Locher ist auf einen Mitarbeiter des Social-Magazins «Izzy» hereingefallen. Dieser gab sich am Telefon als SVP-Wähler aus und bat Locher darum, ihm beim Ausfüllen des Wahlzettels zu helfen. Auf die Frage, ob er nicht auch gleich die Wahlzettel seiner Frau und seines Sohnes ausfüllen und unterschreiben solle, ermutigte ihn Locher: «Sehr gerne», antwortete er dem Anrufer.
Später an einer Pressekonferenz entschuldigte sich Stefan Locher für sein Fehlverhalten. Er habe sich von der «gewinnenden Art» des Anrufers anstecken lassen und dabei falsch reagiert.

Aktualisierung

Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat hat ihre Voruntersuchung im April 2019 abgeschlossen und entschieden, auf eine Strafuntersuchung gegen Stefan Locher zu verzichten.

Ignazio Cassis wegen FDP-Gesundheitspolitik angefeindet

Der Vorfall zeigt: Ärzte geniessen in der Politik zwar hohes Vertrauen. Doch umgekehrt müssen sie häufig auch höheren Ansprüchen genügen. Das hat auch FDP-Bundesrat Ignazio Cassis schon erfahren.
Als die Ärztevereinigung Ignazio Cassis zum Ehrenmitglied der FMH ernannt hatte, kritisierte der Waadtländer Pneumologe Rainer M. Kaelin dies heftig: Cassis’ Partei, die FDP, opfere seit Jahren systematisch die Gesundheitsinteressen der Bevölkerung dem Vorteil der Wirtschaft und versuche das Gesundheitssystem für wirtschaftlichen Gewinn zu organisieren. Deshalb sei der «radikale freisinnige» Ignazio ­Cassis als FMH-Ehrenmitglied nicht geeignet.

Seit 105 Jahren der erste Arzt im Bundesrat

FMH-Präsident Jürg Schlup verteidigte die Wahl. Nicht nur sei nach 105 Jahren wieder einmal ein Arzt in den Bundesrat gewählt geworden. Cassis sei unter anderem 2008 auch zum Vizepräsidenten der FMH gewählt worden. Der Umstand, dass sich einige Ärzte an politischen Positionen von Ignazio Cassis stossen, spreche in seinen Augen nicht gegen die Verleihung einer Ehrenmitgliedschaft.

SP-Nationalräte Barrile und Carobbio sowie CVP-Regierungsrat Damann

Nur wenig Ärzte haben Zeit und Lust , sich aufs politische Parkett zu wagen. Das zeigt auch der Umstand, dass sich die Ärzte im nationalen Parlament an weniger als einer Hand abzählen lassen: Der Zürcher Hausarzt Angelo Barrile ist seit 2015 SP-Nationalrat, die Tessiner Allgemeinmedizinerin Marina Carobbio Guscetti seit 2007 SP-Nationalrätin.
Auch in Kantonsregierungen sind Ärzte selten. Doch es gibt sie: Der 61-jährige Bruno Damann ist St. Galler Regierungsrat und steht dort als CVP-Politiker dem Volkswirtschaftsdepartement vor. Der Allgemeinmediziner wurde vor drei Jahren in die Regierung gewählt.
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