Digitalisierung führt zu Geldvernichtung

«Digital Health» gilt als Zauberlösung für die anstehenden Probleme im Gesundheitswesen. Aber sie wird immer häufiger zum teuren Selbstzweck. Digitale Technokraten kennen die eigentlichen Probleme nicht und vernichten jährlich hunderte von Millionen. Digital Health wird zu einem weltfremden Monster.

, 21. April 2022 um 05:28
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  • digitalisierung
  • felix huber
  • gastbeitrag
Wir erleben beispielhaft gerade die grosse Desillusionierung beim Elektronischen Patientendossier. Das EPD bringt in der nun entwickelten Form keinen Nutzen und stösst auf ein minimales Interesse. Umso mehr wird vom Bund (EDI, BAG, Parlament) das Fuder immer weiter überladen. Jährlich werden von Bund und Kantonen 75 Millionen Franken einer völlig untauglichen Lösung nachgeworfen. Die Alters- und Pflegeheime müssen sich mit 70'000 Franken pro Heim anschliessen. Das wird keinem einzigen Heimbewohner etwas bringen. Wer unter der hochregulierten neuen Zulassungsordnung eine Praxis mit Abrechnungserlaubnis eröffnen will, muss sich neu einer EPD-Stammgemeinschaft anschliessen. Das ist einfach nur noch lächerlich. Wenn ein Produkt komplett falsch konzipiert ist, wird es auch mit Zwangsmitgliedschaften nicht besser. 
Warum rast der Bund mit dem EPD in ein grandioses Debakel?
  • Das EPD enthält keine strukturierten Daten.
  • Das EPD enthält keine aktuellen Daten wie z.B. die aktuelle Medikationsliste, eine aktuelle Diagnoseliste, aktuelle Labor- und Messwerte etc.
  • Ein EPD als Ansammlung von PDF-Dokumenten ist absolut wertlos.
  • Weil nur die praktisch tätigen Ärzte an der Front genau wüssten, wie ein digitales Gesundheitsdossier tatsächlich einen Mehrwert bringen würde.
  • Weil das umständliche Registrierungs-Prozedere die allermeisten Leute davon abhalten wird ein EPD zu eröffnen, zumal das EPD keine Vorteile generiert.

Was wir im Gesundheitswesen brauchen

Wer hat den Mut, die EPD-Übung endlich zu beenden und das Projekt in Zusammenarbeit mit klinisch tätigem Fachpersonal völlig neu aufzusetzen? Dann könnte man zuerst mal nach den wirklichen Bedürfnissen für aktuelle strukturierte Gesundheitsdaten fragen. Und man könnte die wirklichen Probleme identifizieren, die mit einem einfachen und rasch verfügbaren Datenaustausch gelöst werden könnten.
Wir brauchen im Gesundheitswesen eine laufende Qualitäts- und Effizienzsteigerung. Wenn wir uns über die Problemlösungen und Verbesserungsprozesse einig sind, können wir uns überlegen, wie uns digitale Prozesse bei der Umsetzung unterstützen können. Digitale Lösungen sind immer teuer, aufwändig und langwierig. Digitalisierung sollte deshalb nur dann eingesetzt werden, wenn es keinen einfacheren Weg gibt, ein Problem zu lösen und ein Problem auch effektiv durch Digitalisierung gelöst werden kann.

Patienten-Identifikator löst noch keinen Digitalisierungsschub aus

Mit grosser Euphorie hat das Parlament in der Frühlingssession 22 die Motion von Andri Silberschmidt (FDP) für einen eindeutigen digitalen Patienten-Identifikator («Master-Patienten-Nummer») überwiesen. Man erhofft sich dadurch einen neuen Digitalisierungsschub. Die Idee ist sehr gut. Aber woher soll der Schub kommen und wohin soll er gehen? Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir eine eindeutige Patientenidentifikation brauchen. Das hätte das BAG längst umsetzen können. Natürlich ist eine eindeutige Patientennummer die Basis für einen zuverlässigen Datenverkehr. Aber das löst noch keinen Digitalisierungsschub aus.

Wer soll die Bereitstellung dieser Daten bezahlen?  

Mit gutem Echo hat Roche CEO Severin Schwan vor kurzem den umfassenden Zugriff auf anonymisierte Patientendaten für Forschungszwecke gefordert und mit der Verlegung eines Teils des Forschungsstandorts gedroht, wenn es beim Datenzugang nicht vorwärtsgeht. Die Forderung an sich macht Sinn und ist verständlich. Aber: Auf welche Daten möchte Roche denn da zugreifen? Und wer soll die Bereitstellung dieser Daten bezahlen? Wir haben im Gesundheitswesen im ambulanten Bereich fast keine strukturierten Daten, die sich automatisiert auswerten lassen. Wir können nicht mal Daten zwischen den klinischen Informationssystemen austauschen, weil keine Standards und Schnittstellen festgelegt sind und Anbieter den Datenzugang zu ihrem System teuer verkaufen. Die Daten sollten gut dokumentiert, sicher und offen zur Verfügung gestellt werden. Standards zur Förderung des Datenaustauschs wie die FHIR-Schnittstellen sind seit langem bekannt und zeigen den richtigen Weg. Warum finden sie keine Anwendung? Wenige sinnvolle Pionierprojekte wie der e-Mediplan oder die FIRE-Forschungsdatenbank des Instituts für Hausarztmedizin Zürich zeigen auf, wie mit strukturierten Daten ein Mehrwert geschaffen werden kann. Warum können sie nicht einfacher und grossflächiger angebunden werden?

Digital Health und Digitalisierung im Gesundheitswesen sind nicht Selbstzweck

Neue digitale Plattformen wie Well und Compassana wollen die Patienten besser mit ihren Versicherungen und Leistungserbringern vernetzen. Auch hier liegt die grosse Herausforderung darin, Anwendungen zu finden, welche sowohl für Patienten, als auch für Leistungserbringer einen relevanten Vorteil bringen. Noch anspruchsvoller ist es, für solche Anwendungen ein langfristig tragfähiges Businessmodel zu finden.
Digital Health und Digitalisierung im Gesundheitswesen sind nicht Selbstzweck, sondern teures Mittel zum Zweck. Zuerst braucht es einfache, unbürokratische und auch technisch rasch umsetzbare Problemlösungen und Prozessverbesserungen, die aus Kunden- und Praktikersicht neu durchdacht werden. Wo gibt es einfachere und günstigere Wege und wo löst die Digitalisierung die Probleme wirklich? Hier könnten die beim chancenlosen EPD eingesparten 75 Millionen Franken pro Jahr sinnvoll eingesetzt werden.
Dr. med. Felix Huber, Präsident der mediX Ärztenetze  
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