«Es gibt eine gewollte Verlagerung an die Basis»

Selbstorganisation in der Pflege: Seit einigen Monaten läuft bei der Spitex Zürich Limmat ein Pilotprojekt. Nach den Grundsätzen des niederländischen Buurtzorg-Modells kommen selbstorganisierte Teams zum Einsatz. Wie sind die Erfahrungen? Das Interview mit CEO Christina Brunnschweiler.

, 22. August 2018 um 04:00
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Frau Brunnschweiler, wieso braucht die Spitex Zürich Limmat selbstorganisierte Teams?
Wir verfolgen das strategische Ziel, unsere Kunden gut zu betreuen und dafür die richtigen Mitarbeitenden zu haben. Bei einer Spitex liegen Fachkompetenz und pflegerisches Wissen bei den Mitarbeitenden an der Basis. Also müssen wir sie stärken, damit sie ihre Verantwortung besser wahrnehmen können. Vor drei Jahren haben wir begonnen, unsere Prozesse entsprechend auszurichten. Zufällig sind wir später über Buurtzorg gestolpert. Beim Buurtzorg-Modell geht es um die klare Fokussierung auf den Kunden sowie dessen Befähigung, die eigenen Ressourcen zu nutzen. Zudem basiert das Modell auf selbstorganisierten Teams. 
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    Christina Brunnschweiler

    Christina Brunnschweiler ist CEO der Spitex Zürich Limmat, einer der grössten Non-Profit-Spitex-Organisationen der Schweiz. Die Spitex Zürich Limmat beschäftigt rund 1'000 Mitarbeitende. Christina Brunnschweiler ist auch Verwaltungsrätin bei der zmed, Zürcher Ärztegemeinschaft; der RehaClinic Bad Zurzach; Verwaltungsratspräsidentin von TriaPlus, Integrierte Psychiatrie Uri, Schwyz und Zug; Vorstandsmitglied beim fmc Schweizer Forum für Integrierte Versorgung; Stiftungsrätin des Alterszentrums Hochweid ihrer Wohngemeinde Kilchberg; und Co-Präsidentin des Gesundheitsnetz 2025. Christina Brunnschweiler leitet die Spitex Zürich Limmat seit 2010. Davor hatte sie die Spitex Vitalis zehn Jahre geführt.

Diese Arbeitsweise entspricht dem Bedürfnis vieler Mitarbeitenden, die selbstverantwortlich arbeiten wollen. Das Buurtzorg-Modell passt also perfekt. Wir haben also nicht gesagt: «Oh – Buurtzorg ist toll, wir setzen es um.» Vielmehr hilft das Modell, unsere strategischen Ziele zu erreichen.
Warum haben Sie das Pilotprojekt in Zürich-Schwamendingen gestartet?
Die Zentrumsleiterin wollte früher in Pension. Wir überlegten uns, ob wir nun wieder eine Zentrumsleitung suchen sollten im Wissen, dass wir dieses Modell eigentlich nicht mehr wollen. Deshalb haben wir uns für das Pilotprojekt in Zürich-Schwamendingen entschieden. Ursprünglich wollten wir mit zwei Teams von etwa dreissig Mitarbeitenden starten. An einer Informationsveranstaltung haben wir unser Vorhaben präsentiert. Mit dem Ergebnis, dass danach fast alle 100 mitmachen wollten. Jetzt sind es sieben Teams.
Was sind Ihre Erfahrungen nach dem ersten Halbjahr?
Wir gehen sehr sorgfältig voran, was dem Wesen von Spitex-Mitarbeitenden entspricht. Die Sorgfalt ist auch den rund 450 Kundinnen und Kunden geschuldet. Das Pilotprojekt findet bei laufendem Betrieb statt. Die Erfahrungen sind positiv im Sinn, dass die Teams die Verantwortung übernehmen und sich im Alltag sehr gut selber organisieren können. Eine weitere Erkenntnis ist, dass sie dies auch wollen – also beispielsweise die Planung selber übernehmen. Sie machen Ferienplanung, Dienstplanung, und zwei Teams machen auch die Einsatzplanung selber.

«Zur Selbstorganisation gehört auch, dass sie ihre Teammitglieder selber rekrutieren»

Sie nutzen dabei das vorgegebene IT-System. Zur Selbstorganisation gehört auch, dass sie selber ihre Teammitglieder rekrutieren – mit Unterstützung von Human Resources. Und auch hier haben wir gute Erfahrungen gemacht. Schliesslich stellen wir fest, dass sie dazu stehen, wenn einmal etwas nicht wunschgemäss funktioniert. Es entwickelt sich langsam eine neue Art von Feedback-Kultur.
Wie führt man Teams, die sich selber organisieren?
Über definierte Standards, über Werte und über gewisse Eckpunkte. Klar ist ja, dass gesetzliche Auflagen einzuhalten sind – beispielsweise mit welcher Qualifikation welches Krankheitsbild gepflegt werden muss. Auch sind unsere Verhaltensgrundsätze verbindlich. Wir haben sie gemeinsam erarbeitet, und sie gelten für alle Mitarbeitenden in unserer Organisation. Ebenso muss das IT-System genutzt werden, das wir zur Verfügung stellen. Aber die Teams entscheiden selber, ob sie die Daten laufend oder gesammelt am Ende des Tages eingeben. Aber es gibt einen verbindlichen Endtermin als Grundregel. 
Wenn die Teams autonomer sind, braucht es da noch eine gemeinsame Organisation im Hintergrund?
Ja, unbedingt! Wir bieten Services und Leistungen an, die notwendig sind, damit die Teams effizient arbeiten können: Wir unterhalten Supportsysteme für die Informatik, Human Resources usw. Wir stellen die Qualität sicher und den Zugriff auf Spezialfunktionen wie zum Beispiel Palliative Care. Wir sind Gesprächspartner für Kassen, für die Stadt Zürich, die uns als Erteilerin des Leistungsauftrages auch mitfinanziert und für Zulieferanten, beispielsweise Spitäler und so weiter. Unser Job ist, den Teams den Rücken frei zu halten, damit sie gut funktionieren können.
Die Reorganisation bringt es mit sich, dass eine Führungsebene verschwindet …
… bei uns sind es sogar zwei Führungsebenen: Zentrumsleitung und Teamleitung.
Ist die Umstellung auf Buurtzorg nicht einfach ein elegantes Kostensenkungsprogramm?
Nein, das ist es nicht. Die Veränderungen bringen es mit sich, dass bestimmte Aufgaben überflüssig oder automatisiert werden können. Denn Teil des gesamten Projektes ist auch das Lean Management. Doch wir werden wahrscheinlich etwa gleich viele Mitarbeitende haben. Es gibt eine gewollte Verlagerung an die Basis. Es zeichnen sich erste Hinweise ab, dass wir weniger Kosten aufgrund von weniger Krankheitsausfällen haben. Ebenso tiefere Rekrutierungskosten. Denn die Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden steigt, was die Fluktuationsrate reduziert. Aber nochmals: Unser strategisches Ziel heisst: «Zufriedene Kunden mit den richtigen Mitarbeitenden». Es geht nicht darum, einfach Kosten zu sparen.
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Ein Beitrag aus dem Spitex-Report:Unabhängige Übersicht für Entscheider 

Mittlere Kader in einem Unternehmen gehen voran, übersetzen Vorgaben der Geschäftsleitung in den Alltag und prägen die Unternehmenskultur. Können Sie darauf verzichten?
Im Idealfall übernimmt das mittlere Kader solche Aufgaben, ja. Doch die Realität ist komplexer. Zudem gibt es dank Digitalisierung ganz neue Möglichkeiten, etwa in der Kommunikation. Wie sich die Umstellung langfristig für unser Unternehmen auswirkt, weiss ich nicht. Bei uns sind rund 50 bis 60 Kaderpersonen betroffen. Wir haben allen gesagt, dass wir grundsätzlich mit ihnen weiterarbeiten wollen. Doch alle müssen bereit sein, sich und ihre Funktion zu verändern. Denn bestimmte Aufgaben gibt es in der künftigen Organisation nicht mehr, das gilt übrigens auch für die Geschäftsleitung.

«Es braucht das richtige Mindset in der Führung: Man muss loslassen können»

Wir als Unternehmen sind gefordert herauszufinden, was für neue Funktionen wir künftig brauchen. Gleichzeitig sind die Betroffenen gefordert, sich zu überlegen, wo sie in Zukunft welchen Beitrag leisten können. Bei uns ist das ganze Unternehmen in einem Entwicklungsprozess. Kader, die bei diesem Change-Projekt aktiv mitgestalten, erwerben sich Wissen und Erfahrung für spätere Aufgaben.
Wann stellen Sie die ganze Organisation um?
Zunächst geht es darum, die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt systematisch zu erheben, zu gewichten und sie auszuwerten. Es fliessen auch die Ergebnisse aus Fortschritten anderer Unternehmensbereiche ein. Dann entscheiden wir, ob, wann und wie es weitergeht.
Was empfehlen Sie Interessierten, die das Buurtzorg-Modell auch umzusetzen wollen?
Zunächst braucht es eine gesunde Organisation, und am Anfang kostet die Reorganisation Geld. Dann braucht es vor allem das richtige Mindset in der Führung: Man muss loslassen können als Führungsperson. Man darf kein Mikromanager sein. Es braucht Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen. Man muss risikobereit sein. Denn die letzte Verantwortung trägt die Geschäftsleitung so oder so – egal, wie das Unternehmen organisiert ist.
Schlafen Sie immer noch ruhig?
(lacht) Ja!

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