Weshalb ich meine Meinung über Vitamin D geändert habe

Unsere Obsession mit Vitamin- und Nahrungsmittel-Zusätzen ist gefährlich. Und der Drang, jeden auf einen Standard-Vitamin-D-Spiegel zu bringen, ist ein ernsthafter Fehler, schreibt der Epidemiologe Tim Spector. Stark motiviert wurde diese Einsicht durch eine neue Arbeit am USZ.

, 4. Februar 2016 um 08:33
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Alle lieben D, das Sonnenschein-Vitamin. Ärzte, Patienten und die Medien sind seit Jahrzehnten den Vitamin-D-Zusätzen verfallen. Abgesehen Zweck, damit schwere Vitamin-D-Mangelerscheinungen zu bekämpfen, rühmen die Schlagzeilen endlos die magische Fähigkeit, ein breites Spektrum von Leiden zu verhüten, von Demenz bis Krebs.
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    Der Autor

    Tim Spector ist Professor für Genetische Epidemiologie am King’s College in London. Letztes Jahr publizierte er das Sachbuch «The Diet Myth: The Real Science Behind What We Eat». Es erscheint in diesen Tagen unter dem Titel «Mythos Diät» auf Deutsch.

Seit Jahrzehnten haben Mediziner wie ich ihren Patienten mit Oesteoporose oder anderen Knochenproblemen solche Zusätze empfohlen. Viele Nahrungsmittel enthalten künstlich beigesetztes Vitamin D, mit der Absicht, Brüche und Stürze zu vermeiden sowie die Muskelkraft zu steigern; wobei zugleich beansprucht wurde, dass das Vitamin das Immunsystem stärkt und den Alterungsprozess bremst.
Ich selber habe Vitamin D zeitweise eingenommen und meiner Familie in sonnenarmen Wintern angeraten.

Viel Prominenz, wenig Evidenz

Dennoch: Ein neues Paper über die Risiken, die im Vitamin D stecken könnten, hat mich überzeugt, dass ich falsch lag.
Meine Einstellung zu Vitamin-Zusätzen und zur Multimilliarden-Industrie dahinter hatte sich bereits radikal gewandelt, nachdem ich 2013 für mein Buch «The Diet Myth» («Mythos Diät») zu recherchieren begonnen hatte. Die Branche und ihre PR wird durch Prominente unterstützt, die sich angeblich Vitamin-Injektionen in die Venen tröpfeln lassen, und etwa die Hälfte der Amerikaner und Briten nehmen solche Zusätze regelmässig ein. Aber überraschenderweise mangelt es an Evidenz für den behaupteten Gesundheitsnutzen von nahezu allen Vitamin-Ergänzungsmitteln, die auf dem Markt sind.

Mehr als nur Geldverschwendung

Eine Studie, die auf dem grossflächigen SELECT-Versuch gründete, deutete sogar an, dass Supplemente wie Vitamin E und Selenium bei einigen Männern Prostatakrebs fördern könnten. Und letztes Jahr vereinigte eine massive Analyse 27 Studien, in denen eine halbe Million Menschen erfasst waren; sie kam zum Schluss, dass die Einnahme von Vitamin- und Mineralien-Zusätzen regelmässig darin scheiterten, Krebs oder Herzkrankheiten zu verhüten.
Nicht nur, dass sie für die Mehrheit von uns eine Geldverschwendung sind – nimmt man sie exzessiv, so können sie auch einen früheren Tod bewirken, indem sie das Risiko einer Herzerkrankung oder von Krebs steigern.
Innert weniger Wochen erschienen diverse Studien, die Zweifel am Nutzen von Vitamin D weckten. Eine dieser Untersuchungen – die offenbar auch für diesen Beitrag von Tim Spector sehr motivierend war – wurde unter der Leitung von Heike Bischoff-Ferrari vom USZ erarbeitet.
Sie zeigte, dass Vitamin-D-Zusätze in Verbindung stehen mit einem höheren Sturz-Risiko. Von den beobachteten älteren Menschen wies die Gruppe mit dem Vitamin-D-Spiegel im unteren Normbereich im Beobachtungszeitraum am wenigsten Stürze auf. Dagegen zeigten sich in der Gruppe mit den Höchstwerten die meisten Stürze.
Ein Fazit: Hohe Vitamin-D-Dosen bringen unter diesem Aspekt kaum Vorteile.
Nahezu kein Vitamin und keine Zusätze zeigten einen Nutzen in sauberen randomisierten Versuchen mit normalen Menschen ohne schwere Mängel. Zu den seltenen Ausnahmen gehören Lutein-Nährpräparate im Falle von Makuladegeneration, einer häufigen Ursache für Erblindung – sowie Vitamin D, der Goldjunge unter den Vitaminen.

Das schadet nichts?

Seit den 1980er Jahren verfassten Forscher (auch ich) tausende Paper, in denen sie Zusammenhänge aufzeigten zwischen einem Mangel an unserem Lieblingsvitamin und über 137 Krankheiten. Ein Bericht im «British Medical Journal» erkannte diese Verbindungen 2014 allerdings vorwiegend als fadenscheinig.
Unser genetischer Aufbau beeinflusst den Vitamin-D-Spiegel. Diese Einsicht hilft uns dabei zu sagen, ob natürlich tiefe Vitamin-D-Niveaus das Risiko einer Krankheit erhöhen könnten (eher als ob sie die Folge davon sind). Die Indizien besagen bislang (mit den möglichen Ausnahmen von Multipler Sklerose und einigen Krebsarten), dass ein tiefer Vitamin-D-Spiegel entweder irrelevant ist oder lediglich ein Marker der jeweiligen Krankheit.

Ergebnisse der letzten fünf Jahre

Bislang hatten wir aber kein Problem damit, den Menschen Extradosen an Vitamin D zu verabreichen, weil wir dachten: «Es könnte ja trotzdem helfen, und da es ein Vitamin ist, schadet es nicht.» Mit steigenden Kenntnissen sollten wir es besser wissen.
Jüngere Studien deuteten in den letzten fünf Jahren etwa an, dass Kalzium-Zusätze nicht nur ineffektiv darin sind, Brüche zu verhindern, sondern sogar das Risiko eines Herzleidens erhöhen können. Und während diverse Untersuchungen bei normalen Menschen einfach keine Schutzwirkung von Vitamin D festmachen konnten, waren andere schon bedenklicher. 2015 zeigte eine randomisierte Studie mit 409 älteren Menschen in Finnland, dass Vitamin D verglichen mit einem Placebo keinen Nutzen bot – aber dass damit leicht häufiger Knochenbrüche auftraten.
Dieser Artikel wurde ursprünglich publiziert in «The Conversation». Lesen Sie den Original-Beitrag: «The sun goes down on Vitamin D: why I changed my mind about this celebrated supplement», Januar 2016.
Die übliche empfohlene Dosis liegt in den meisten Ländern bei 800 bis 1'000 Einheiten pro Tag (also 24,000-30,000 Einheiten pro Monat). Allerdings zeigten zwei Studien, dass Vitamin D bei etwa 40'000 bis 60'000 Einheiten pro Monat tatsächlich zu einer gefährlichen Substanz zu werden beginnt.
Die eine Studie umfasste über 2'000 ältere Frauen in Australien und wurde seinerzeit kaum beachtet. Die andere, die nun veröffentlicht wurde, zeigte an, dass Patienten, denen hohe Vitamin-D-Dosen verabreicht wurden (oder solche mit tieferen Dosierungen, welche den von Knochenspezialisten als optimal bezeichneten Vitamin-D-Spiegel erreichten) eine um 20 bis 30 Prozent erhöhte Bruch- und Sturz-Neigung hatten – im Vergleich zu jenen Probanden, die einen tiefen Spiegel hatten oder die jenes «optimale Niveau» gar nicht erreichten.

Hoher Vitamin-D-Spiegel gut, Zusätze schlecht?

Schwieriger ist es zu erklären, weshalb Vitamin-D-Zusätze oft schädlich sind. Einige Menschen, die keine Ergänzungsmittel nehmen, haben einen natürlich hohen Vitamin-D-Spiegel im Blut; das kann daran liegen, dass sie viel Zeit im Sonnenlicht verbringen oder dass sie regelmässig Fischöl zu sich nehmen. Und hier gibt es keinen Hinweis darauf, dass dies schädlich wäre.
Überdurchschnittlich hohe levels können auch genetisch bedingt sein; damit erklären sich die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen zu ungefähr 50 Prozent. Unsere Obsession, jeden auf einen Standard-Ziel-Blutspiegel zu bringen, ist folglich ein ernsthafter Fehler, etwa ähnlich dem «One size fits all»-Ansatz bei Diäten.

«Natürliche» Ergänzungsprodukte

Bislang dachten wir, es sei «natürlich», Vitamin-Ergänzungsprodukte zu verwenden. Viele meiner Patienten würden sie nehmen, während sie konventionelle «unnatürliche» Medikamente ablehnen.
Aber unser Körper betrachtet die Zusätze kaum in derselben schrägen Art. Das Vitamin D entstammt hauptsächlich dem UV-Licht, das in unserer Haut umgewandelt wird, oder es wird langsam aus der Nahrung metabolisiert. Im Gegensatz dazu könnte die Einnahme einer grösseren Menge der Chemikalie durch den Mund oder als Injektion eine ganz andere, unvorhersehbare metabolische Reaktion auslösen.

Wir sollten diesen Missbrauch ernster nehmen

So sind unsere Darmbakterien dafür zuständig, etwa ein Viertel unserer Vitamine zu produzieren, aber auch ein Drittel unserer Blut-Stoffwechselprodukte, und sie reagieren auch auf Wechsel im Vitaminspiegel. Jeglicher künstliche Zusatz von grossen Mengen an Chemikalien kann sensible Immunprozesse auslösen.
Die Nachricht, dass sogar mein Lieblingsvitamin gefährlich sein kann, ist ein Weckruf. Wir sollten den weltweiten Missbrauch solcher Chemikalien ernster nehmen – und diese gewiss nicht routinemässig den Nahrungsmitteln beifügen. Die Milliardensummen, die wir für diese Produkte verschwenden, unterstützt durch reiche und mächtige Vitaminindustrie, sollten in die eigentliche Gesundheitsversorgung fliessen. Dafür sollten die Menschen gelehrt werden, in die Sonne zu gehen und ein breites Spektrum an wirklicher Nahrung zu essen.
Für 99 Prozent der Menschen genügt dies, um ihnen all die gesunden Vitamine zu verschaffen, die sie überhaupt je benötigen werden.

  • Bild: NutritionFacts.org

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