Und zwar geht es um einen ehemaligen britischen Soldaten, der keine neuen Erinnerungen bilden kann – respektive der das Gedächtnis alle eineinhalb Stunden aufs Neue verliert.
Es begann eines Morgens im März 2015, als der Mann in Deutschland seinen Zahnarzt aufsuchte: Er musste sich einer Wurzelbehandlung unterziehen. In der Folge geriet er in einen Kreislauf, bei dem er jeweils nach spätestens 90 Minuten wieder am gleichen Punkt landet: Er glaubt, er sei ein in Deutschland stationierter britischer Soldat und müsse jetzt dann zum Zahnarzt, um sich einer Wurzelbehandlung zu unterziehen…
Die behandelnden Ärzte von der University of Leicester schilderten die Ereignisse im Fachblatt
«Neurocase», auch in der Hoffnung, dass andere Neurologen oder Psychiater ihnen mit vergleichbaren Fällen zu neuen Wegen und Erklärungen weisen könnten.
Im Verlauf des Eingriffs scheint also etwas geschehen zu sein, was den «WO», genannten Patienten davon abhält, Informationen im Langzeit-Gedächtnis abzulagern. Alle neuen Erinnerungen halten nur etwa 90 Minunten an.
Und so muss dem Patienten heute, gut zehn Jahre später, alle paar Stunden aufs Neue erläutert werden, dass er nicht mehr zwei süsse Kinder hat – sondern einen erwachsenen Sohn und eine erwachsene Tochter.
Verletzungen wurden keine festgestellt
Der Zahnarzt in Deutschland stellte nach der Behandlung kaum Komplikationen fest. Der Patient sei bleich gewesen, der Blick wenig fokussiert, und er geriet beim Aufstehen etwas ins Wanken. Am Nachmittag desselben Tages wurde WO erneut ins Spital verbracht, wo in den folgenden Tagen klar wurde, dass mit seinem Langzeitgedächtnis etwas nicht in Ordnung war. Verletzungen wurden keine festgestellt.
Und so blieb die Diagnose bis heute unklar. An Thesen mangelt es natürlich nicht:
- Ein erster Verdacht richtete sich gegen die Anästhesie, und man suchte, ob es als Folge davon zu Hirnblutungen gekommen sei – doch es wurden keine gefunden.
- Sehr naheliegend schien es, dass man es hier mit einer anterograden Amnesie zu tun hat. Also einer Unfähigkeit, neue Erinnerungsinhalte zu schaffen, wie man sie beispielsweise auch von Alzheimer-Patienten kennt. Doch die Hirnregionen, die bei dieser Erkrankung normalerweise betroffen sind, erscheinen bei WO völlig unauffällig. Auch passen die Symptome in einigen Details nicht recht zu den üblichen Mustern der anterograden Amnesie.
- Hat man es also mit einem klassischen psychologischen Problem zu tun? Immerhin gibt es Fälle von Gedächtnisverlusten nach traumatischen Erfahrungen. Aber eine zahnärztliche Behandlung mit dem Methoden des Jahres 2005 erscheint doch nicht allzu traumatisierend – und vor allem betraf das Ereignis einen Soldaten, bei dem das britische Militär zuvor keine psychologischen Auffälligkeiten festgestellt hatte und der dort für eine Offizierslaufbahn vorgesehen gewesen war.
- Das Problem könnte also irgendwo bei der Neubildung der Synapsen liegen, oder genauer: Beim metabolischen Prozess, der bei der Umformung der Synapsen im Rahmen von Gedächtnisprozessen geschieht. Völlig unklar wäre aber auch dann, weshalb so etwas durch eine zahnärztliche Allerwelts-Behandlung ausgelöst werden kann.
«Das ist die Millionenfrage und ich habe keine Antwort darauf», sagt Gerald Burgess, ein Psychiater der Universität Leicester und behandelnder Arzt,
gegenüber der BBC.
Nur zweimal blieben in den zehn Jahren des ständigen Gedächtnis-«Rebooting» noch einige neue Details hängen. Einmal geschah dies während eines dreimonatigen Versuchs mit einem Cholinesterase-Hemmer: Dabei gelang es WO, gewisse Erinnerungen länger als 24 Stunden zu bewahren – danach jedoch verschwanden sie doch alle wieder aus dem Gedächtnis.
Und es gab noch ein Ereignis, das dem Patienten dauerhaft geblieben ist: Es war der Tod des Vaters.
Bild: John Twohig, «Dentist», Flickr CCSiehe auch: