«Der Fachkräftemangel ist hausgemacht»

Es herrscht akute Personalnot im Gesundheitswesen – dennoch steigen die Gehälter kaum. Die Gewerkschaften befürchten sogar Lohnsenkungen. Was ist da los? Antworten hat Jérôme Cosandey, Experte für Gesundheitspolitik bei Avenir Suisse.

, 28. November 2016 um 15:00
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Herr Cosandey, im Gesundheitswesen suchen die Personalchefs verzweifelt nach Fachkräften. Nach den ökonomischen Regeln müssten in dieser Lage die Löhne steigen. Warum geschieht das nicht?
Der Gesundheitssektor ist kein Markt – es ist ein regulierter Bereich. Die Erträge der Spitäler oder der Heime sind meistens staatlich vorgegeben oder fix abgemacht, beispielsweise mit SwissDRG oder Tarmed. Wer hier also dem Personal mehr geben will, senkt seine Gewinnmarge, vielleicht kommt er sogar in die roten Zahlen.
Auch die Banken leiden unter Margendruck, und trotzdem hört man dort immer wieder von Lohnexzessen.
Ja, aber im Finanzsektor kann man eher gewisse Gebühren oder Preise erhöhen, wenn das Personal teurer wird. 
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    Jérôme Cosandey

    Jérôme Cosandey ist Senior Fellow und Forschungsleiter Sozialpolitik bei Avenir Suisse. Gesundheitspolitik gehört zu seinen Forschungs-Schwerpunkten. Der ausgebildete Maschinenbau-Ingenieur arbeitet seit 2011 beim Schweizer «Think Tank». In seiner Karriere war er zuvor unter anderem für UBS und Boston Consulting tätig gewesen.

In der Gesundheitsbranche sind die Zustände also träger.
Ja. Ein grosser Teil der Branche hat ja auch Gesamtarbeitsverträge (GAV) oder zumindest Lohnverhältnisse, die einem GAV ähneln. Ein Unternehmen, das keinem GAV untersteht, kann sein Lohnangebot punktuell erhöhen, wenn es verzweifelt eine Fachkraft für eine gewisse Stelle sucht. Eine Organisation mit GAV müsste dann aber die ganze Lohnskala anpassen – und am Ende würde alles mehrfach teurer.
Dennoch: Die Gewerkschaften reden sogar von Lohndruck, es werden Senkungen befürchtet. Und in Genf beschlossen die Privatspitäler im Frühjahr tatsächlich, dass die Löhne der Negativ-Teuerung angepasst werden. Das ist schwer verständlich.
In Genf war es genau genommen keine Reallohn-Senkung: Der Reallohn bleibt konstant. Die Gewerkschaften sind natürlich schnell da, wenn man bei einer Teuerung Lohnerhöhungen fordern kann, aber umgekehrt geht es dann schwieriger.
Aber die Frage bleibt: Warum geschieht so etwas ausgerechnet in einer Branche, wo wirklich grosse Personalnot herrscht?
Offensichtlich haben diese privaten Spitäler genügend gute Arbeitsbedingungen, um auch mit solch einem Schritt noch konkurrenzfähig zu sein. Der Lohn ist zwar eine wichtige Komponente für die Attraktivität, aber bei weitem nicht die einzige. Flexibilität und Weiterbildung sind gerade im Gesundheitswesen sehr wichtig.
Was würden Sie als Personalchef in der aktuellen Arbeitsmarktlage tun?
Mir fällt der Fall eines öffentlichen Spitals ein, wo eine Mitarbeiterin wünschte, am Tag des Schuljahres-Beginns freizuhaben. Der Teamleiter lehnte das ab, da die Schichtpläne zu lange im Voraus gemacht werden müssten. Die Frau hat gekündigt. Es ist extrem wichtig, hier flexible Lösungen zu finden, gerade im Gesundheitswesen mit seinem grossen Anteil an Frauen. Wichtig ist also eine Kultur, in der sich die Teams mit viel Freiheit selber organisieren können, wo es Wertschätzung gibt, wo die Weiterbildungs-Angebote gut sind.

«Wir dürfen nicht vergessen: Die Löhne steigen im Gesundheitswesen. Sie steigen sogar überdurchschnittlich.»

Dennoch: Wieso gibt es nicht einzelne «Streikbrecher» in dem Sinn, dass hier und da eine rentable Klinik an der Lohnspirale nach oben dreht?
Wir dürfen nicht vergessen: Die Löhne steigen im Gesundheitswesen. Und sie steigen im Vergleich zu anderen Branchen sogar überdurchschnittlich. Es geschieht durchaus etwas. Man kann sich höchstens fragen, weshalb es andere Sektoren gibt, wo sie noch stärker steigen, beispielsweise der Finanzbereich.
Und wie erklären Sie das?
Dort gab es Verlagerungen bei den Anforderungsprofilen: In den heutigen Banken gibt es zum Beispiel einen höheren Bedarf an ausgebildeten Juristen für die Compliance; dafür braucht es beispielsweise weniger Mitarbeiter in der Wertschriftenverwaltung.
Auch im Gesundheitssektor gibt es einen Trend zur immer höheren Qualifizierung.
Hier taucht tatsächlich eine wichtige Frage auf. Die Entwicklung könnte dahin gehen, dass man durch einen neuen «Grade- und Skill-Mix» oder durch andere Organisationsformen weniger Personal benötigt. Dieses erzielt dann zwar höhere Löhne, aber es hält die Gesamtkosten tiefer. In diesem Kontext ist es aber wichtig, dass man gesetzliche Vorgaben zum Beispiel in Bezug auf den «Grade-Mix» dabei nicht missbraucht, um Lohnforderungen durch die Hintertüre durchzubringen.
Grundsätzlich: Was kann man tun gegen den Fachkräftemangel im Schweizer Gesundheitswesen?
Im Pflegebereich ist die Schweiz im internationalen Vergleich sehr gut dotiert. Pro Einwohner gibt es hier viel mehr Pflegefachleute als in den anderen OECD-Industriestaaten. Auch haben wir viel mehr Spitäler pro Einwohner. Die Schweiz hat etwa gleich viele Spitalbetten, aber diese befinden sich in durchschnittlich kleineren Krankenhäusern. Man benötigt also an mehr Orten dieselben Grundstrukturen: Nachtwache, Anästhesie, Radiologie…
Eine Hauptlösung wäre also eine Senkung der Anzahl Krankenhäuser? Im Kanton Bern haben dies ja jetzt gerade die Stimmbürger ermöglicht – sie haben die Spitalstandortinitiative abgelehnt.
Es würde sicher helfen, die Effizienz zu steigern. Nur Australien und Finnland haben pro Einwohner so viele Spitäler wie die Schweiz. Aber dort gibt es natürlich ganz andere Distanzen, und diese verlangen nach anderen Strukturen. Man kann nicht jemandem zumuten, dass er mit einem geplatzten Blinddarm fünf Stunden durchs Outback fahren muss. Aber unsere Spitaldichte ist natürlich politisch gewollt, die Gesellschaft will das (noch) so. Folglich benötigen wir mehr Personal. Der Fachkräftemangel ist also quasi hausgemacht.
Publikationen von Jérôme Cosandey zum Thema:


Welche Vorschläge haben Sie sonst?
Auch ist der Beschäftigungsgrad sehr tief, im Spitex-Bereich liegt er jetzt bei 45 Prozent. Das heisst: Für eine Stelle muss man hier zwei Personen anstellen und ausbilden. Wir müssen gar nicht das Ziel von 100 Prozent erreichen, aber wenn das Personal in der Spitex im Schnitt zu 75 Prozent angestellt wäre – wie im Spitalbereich –, dann wäre dies schon eine starke Entlastung. Mit Ideen wie besser abgestimmten Dienstplänen oder Kita-Angeboten liesse sich hier einiges erreichen.
Interessanterweise fehlt es gar nicht am Nachwuchs. Das Problem scheint eher, dass die Quote der Aussteiger sehr hoch ist im Gesundheitswesen.
Das stimmt, aber interessant ist auch, dass hier sehr viele wieder einsteigen. Nirgends sonst werden so viele Personen im Alter über 50 wieder neu angestellt, und ich vermute stark, dass wir hier sehr viele Wiedereinsteiger haben. Offensichtlich schafft es diese Branche, einen gewissen Erfahrungsverlust gut zu kompensieren.
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