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«Der Hausarzt spielt eine grosse Rolle!»

Der «Swiss Health Monitor 2022» zeigt: Die telemedizinischen Angebote der Krankenkassen werden kaum genutzt und der persönliche Kontakt zur Ärztin ist beliebter denn je.

, 23. November 2022 um 10:00
Dr. Bernhard Lingens, Leiter Area Innovation, Institut für Marketing und Analytics, Universität Luzern,
Yves Ottiger, Chief Marketing Officer, B. Braun Medical AG.
Herr Ottiger, wie ist die Idee zum «Swiss Health Monitor 2022»: entstanden?
Wir von B. Braun haben uns überlegt, wie wir Innovation ins Schweizer Gesundheitswesen bringen können, zusätzlich zu dem, was wir als relevanter Lieferant des Schweizer Gesundheitswesens bereits darstellen. Wir wollten also die Player aus verschiedenen Gesundheitssektoren zusammenbringen, um zu evaluieren, wo Potenzial besteht. Dabei mussten wir allerdings feststellen: ohne Zahlen und Fakten wird das schwierig. So ist die Idee zur Studie entstanden. Der Swiss Health Monitor ist Teil der «Swiss Consumer Studies» des Instituts für Marketing und Analytics (IMA) der Universität Luzern.
Die Datengrundlage des «Swiss Health Monitors» bildet eine repräsentative und schweizweit durchgeführte Online-Umfrage mit 1’028 Personen. Welche Erkenntnisse haben Sie besonders überrascht?
Dr. Bernhard Lingens: Überrascht hat mich, wie grosse die Präferenzen bei den Schweizerinnen und Schweizern hinsichtlich künstlicher Intelligenz (KI) ist. Über 90 Prozent der Befragten haben hierzu eine klare Meinung. Und die Mehrheit würden der Diagnose eines Mediziners noch mehr Vertrauen schenken, wenn diese durch KI unterstützt würde. Spannend war auch die Erkenntnis, dass der Hausarzt und die klassische Apotheke weiterhin eine sehr grosse Rolle spielen. Und nicht zuletzt hat mich auch überrascht, dass die telemedizinischen Angebote der Krankenkassen sehr unbeliebt sind und wenig genutzt werden. Diese gehen nach unseren Ergebnissen stark am Markt vorbei.
Yves Ottiger: Überrascht hat mich persönlich auch der Aspekt «Nachsorge». Für viele Schweizer ist die präferierte Variante nach wie vor die Betreuung in einer Gesundheitseinrichtung.
73 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind mit der Schweizer Gesundheitsversorgung zufrieden und 81 Prozent schätzen den eigenen Gesundheitszustand als gut bis sehr gut ein. Haben Sie mit einer so hohen Zufriedenheit gerechnet?
Bernhard Lingens: Ich habe erwartet, dass dieser Wert hoch ist. Es ist eine Bestätigung für unser gut funktionierendes Gesundheitssystem. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass 59 Prozent der Befragten bei Anzeichen einer Erkrankung nicht aktiv reagieren und relativ lange warten, bis sie einen Arzt oder eine Apothekerin aufsuchen. An erster Stelle wird bei Beschwerden «Dr. Google», Freunde oder Verwandte befragt. Erst wenn die Symptome nicht bessern, lässt man diese abklären. Hier sehe ich grosses Potential, um Vorsorge zu unterstützen.
Yves Ottiger: Es ist ein wahnsinniges Ergebnis, wenn man bedenkt, dass wir auch viele ältere Menschen befragt haben. Es widerspiegelt unser sehr gutes Gesundheitssystem. Die Digitalisierung kann in Zukunft den Service und Kontakt zum Patienten weiter verbessern.
Stichwort Digitalisierung. Nur 17 Prozent der Schweizerinnen nutzen Telemedizin, lediglich 10 Prozent von Ihnen sind zufrieden damit. Was sind mögliche Gründe, dass diese so unbeliebt ist?
Yves Ottiger: Die persönliche Beziehung zum Arzt ist für die Befragten, praktisch durch alle Alterskategorien hindurch, wichtig. Ich denke, Telemedizin hat Potenzial, muss jedoch hohe Qualitätsansprüche erfüllen. Und das tut sie heute vielfach nicht.
Bernhard Lingens: Rund 70 Prozent der Befragten nutzen Google als Erstauskunft. Es ist kostenlos und man hat schnell eine Antwort. Der Hausarzt oder Apotheker weist ähnliche Werte auf. Basierend auf unseren Daten entsteht die Hypothese, dass die Telemedizin «stuck in the middle» ist – nicht so komfortabel wie Google, aber auch nicht so vertrauenswürdig wie der Arzt des Vertrauens.
In welchen Bereichen sehen Sie besonderes Potenzial für eine digitale Interaktion?
Yves Ottiger: In der Prävention, im Erstkontakt mit Gesundheitsdienstleistern und in der Nachsorge. 44 Prozent der Befragten sagen, dass sie aktiv Prävention mithilfe von technologischen Hilfsmitteln betreiben. Fitnesstracker sind beliebt, das Potenzial der Informationen wird allerdings nicht voll ausgeschöpft.
Bernhard Lingens: Ein weiteres wirtschaftliches Potenzial für digitale Dienstleistungen sehe ich in der Nachsorge. Die potenzielle Nachfrage für eine Nachbehandlung zu Hause statt in einer Gesundheitseinrichtung wird jedoch aktuell von Gesundheitsdienstleistern zu wenig genutzt. Dabei interessieren sich 40 Prozent der in der Schweiz lebenden Personen zusätzlich für eine digital begleitete Nachsorge.
Der persönliche Kontakt zum Arzt ist so beliebt wie eh und je, schweizweit fehlen jedoch Hausärzte. Wie könnten hier mögliche Lösungsmodelle aussehen?
Yves Ottiger: Die Versorgung im Hausarztmodell kann so nicht aufrecht erhalten bleiben, das ist klar. Hier könnten die Apotheker in die «Presche» springen, den Erstkontakt sichern und eine Triagefunktion übernehmen. Daran arbeiten viele Apotheken aktiv und es entstehen zahlreiche Angebote. Die Zufriedenheit ist bei den Befragten bereits heute sehr hoch.
In einer frühen Phase der Patienten-Journey ist der Einsatz von Technologie weitverbreitet. Was bedeutet das fürs Gesundheitswesen?
Bernhard Lingens: Eine übliche Problematik bei der Einführung innovativer Technologien am Markt stellt das Adoptionsverhalten der Nutzer dar: Man ist, gerade bei sensiblen Themen wie Gesundheit, typischerweise erst einmal skeptisch und wartet ab, wie die Technologien sich durchsetzen. Je mehr digitale Technologien jedoch schon verwendet werden, desto geringer dürften diese Hürden ausfallen – Dies unterstreicht noch einmal das oben genannte Potential.
Die positive Einstellung der Befragten hinsichtlich künstlicher Intelligenz KI bietet enormes Potential auch für die Spitäler. Wie kann dieses genutzt werden?
Yves Ottiger: Das Thema KI ist in der Bevölkerung angekommen und wird sehr positiv wahrgenommen. Schon heute wird es im Klinikalltag eingesetzt, aber nach aussen nicht stark beworben. Ich denke, hier könnensich die Kliniken differenzieren, im Sinne von: «Bei uns werden Sie als Mensch optimal betreut, im Hintergrund unterstützt zusätzlich KI». 16 bis 21 Jährige haben dabei doppelt so hohes Vertrauen in KI wie die restlichen Befragten.
KI braucht grosse Datenmengen um zu lernen. Wie hoch ist die Bereitschaft der Befragten, ihre Daten zu teilen?
Bernhard Lingens: Die Menschen sind bereit ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Dabei spielen Geldanreize eine geringere Rolle, sondern vielmehr der Aspekt, anderen damit zu helfen.
Weit über die Hälfte der Befragten haben schon Therapien abgebrochen und damit unnötig Kosten generiert. Hier müssten doch die Krankenkassen hellhörig werden?
Yves Ottiger: Absolut, hier besteht Kostensenkungspotenzial. Unnötige Therapien könnten bei persönlichem Kundenkontakt und aktiver Nachfrage sicherlich schneller erkannt werden. 50 Prozent der Befragten nennen als Gründe für den Therapieabbruch: 1. Mangel an Vertrauen in die Therapie, 2. Unverständnis bezüglich der Therapie.
Bezug des Studienberichts
Der «Swiss Health Monitor» umfasst 47 Seiten und bietet vertiefte Einblicke in den aktuellen und künftigen Stand der Schweizer Gesundheitsversorgung. Er enthält detaillierte Betrachtungen der «Customer Health Care Journey» sowie eine Untersuchung zum Engagement der Bevölkerung im Bereich der Gesundheitsversorgung, indem er beispielsweise die Bereitschaft zum Teilen persönlicher Gesundheitsdaten auslotet. Ausserdem finden sich in der Studie teilweise Subgruppenanalysen, die weiterführende Erkenntnisse ermöglichen, etwa durch die Unterteilung in Altersgruppen oder Patientencharakteristika. Dervollständige Bericht kann auf der Webseite Swiss Consumer Studies der Universität Luzern bestellt werden. Ausgewählte Insights der Studie sind im PDF-Format frei verfügbar.
Studienhintergrund
Die Datengrundlage des «Swiss Health Monitors» bildet eine repräsentative und schweizweit durchgeführte Online-Umfrage mit 1’028 Personen. Die Erhebung fand zwischen dem 15. Juni und 2. Juli 2022 in Zusammenarbeit mit LINK statt. Der Bericht ist Teil der «Swiss Consumer Studies» des Instituts für Marketing und Analytics (IMA) der Universität Luzern, das in regelmässigen Abständen Studien zu aktuellen Themen des digitalen Konsumentenverhaltens und des digitalen Marketings veröffentlicht.

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