In der Alterspsychiatrie werden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft

Heinz Hänni sieht die alterspsychiatrische Versorgung gefährdet. Er plädiert für einen gesellschaftlichen Diskurs, in welchem Umfang alterspsychiatrische Leistungen finanziert beziehungsweise angeboten werden.

, 28. Januar 2023 um 07:00
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Heinz Hänni: «Bis 2050 wird sich die Anzahl dementer Menschen verdoppeln.» | zvg

Entwicklung der Alterspsychiatrie

Die Alterspsychiatrie nimmt aufgrund der demographischen Entwicklung einen immer höheren Stellenwert ein: Bis 2050 wird sich die Anzahl dementer Menschen verdoppeln. Zudem nimmt die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen zu, immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen oder auch deren Angehörige erkennen die psychische Erkrankung und benötigen die entsprechende psychiatrische Versorgung.

Forschung der Alterspsychiatrie

Das Alter als jahrzehntelange Phase nach dem Ende der Berufstätigkeit ist ein relativ neues Phänomen und gelangte erst vor kurzer Zeit in den Fokus der medizinischen Forschung. Mittlerweile zeigt eine Vielzahl von Studien, dass ältere Menschen einer angepassten Behandlung bedürfen. In dieser Phase des höheren Lebensalters sollen auch die zunehmend grösser werdenden Unterschiede zwischen noch sehr aktiven Menschen und solchen mit deutlich erhöhter Verletzlichkeit mitberücksichtigt werden.

Nicht-medikamentöse Therapien

In der Alterspsychiatrie haben nicht-medikamentöse Therapien eine sehr wichtige Bedeutung. Dazu gehören beispielsweise Aktivierungstherapien mit Gedächtnis- oder Orientierungsübungen, Musik-, Ergo- oder auch Verhaltenstherapien. So werden auch digitale Hilfsmittel eingesetzt, mithilfe derer kognitive Fähigkeiten trainiert oder aufrechterhalten werden oder auch das seelische Wohlbefinden gefördert werden kann.
Digitale Hilfsmittel wie beispielsweise ein digitaler Pflegeassistent erleichtern den betreuenden und pflegenden Personen den stationären Alltag. Anhand der Kombination von Sensordaten kann der digitale Pflegeassistent bei Sturzereignissen einen Alarm auslösen, oder zum Beispiel darauf hinweisen, wenn eine Patientin oder ein Patient unruhiger als üblich ist. Die Pflegefachpersonen können dann Kontakt mit den Patienten und Patientinnen aufnehmen und zum Beispiel bei Schmerzen Reservemedikation verabreichen und somit prophylaktische Massnahmen bezüglich Sturzereignissen veranlassen. Zudem werden unnötige Wege für die Pflegefachperson reduziert und es wird mehr Zeit für den Austausch mit den Patienten und Patientinnen geschaffen.

Alterspsychiatrische Versorgung gefährdet

Die Personalsituation in der Pflege bleibt weiterhin kritisch, auch in der stationären Alterspsychiatrie fehlt es an Pflegefachpersonen. Aufgrund zahlreicher Bettensperrungen in Alters- und Pflegeheimen und im Besonderen auch in den somatischen Spitälern können oft nur noch sehr schwer erkrankte Patienten und Patientinnen stationär behandelt werden. Deren Betreuung und Pflege erfordern wiederum mehr Personal pro Bett. Solche Situationen führen zu verfrühten Austritten und späteren ressourcenaufwändigen Wiedereintritten.
Daher ist auch für die Pflege von Menschen im höheren Lebensalter wichtig, dass der Pflegeberuf attraktiver gemacht wird, in dem unter anderem auch genügend spezialisierte Ausbildungen angeboten werden oder Möglichkeiten für einen Wiedereinstieg nach einer Berufspause vorhanden sind. Damit auch in den kommenden Jahren ältere Menschen mit einer psychischen Erkrankung bis zu ihrem Lebensende gut betreut und gepflegt werden können.

Gesellschaftlicher Diskurs

Gefragt ist aber auch ein gesellschaftlicher Diskurs, in welchem Umfang alterspsychiatrische Leistungen finanziert beziehungsweise angeboten werden. Die Schere zwischen den theoretisch wünschenswerten nicht-medikamentösen (State-of-the-Art) Behandlungen und der Versorgungsrealität droht immer weiter auseinander zu gehen. Entsprechende Interventionen sind besonders personalintensiv während medikamentöse-sedierende Verfahren kurzfristig weniger Ressourcen brauchen, für Patienten und Patientinnen aber ein schlechteres Outcome bedeuten.
Wichtig sind die Beratung und Unterstützung von Pflegeinstitutionen und Spitex-Organisationen. Im Besondern sind auch die Angebote für pflegende Angehörige zu erweitern. Nur so können die Versorgung und damit auch die Lebensqualität vieler älterer Menschen dauerhaft verbessert wird.
Dr. Heinz Hänni ist Verwaltungsratspräsident der Domicil Holding in Bern und ehemaliger Verwaltungsratspräsident der UPD Bern.

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