Was Mässigungs-Kampagnen wirklich bringen

Aktionen wie «Choosing Wisely» oder «Smarter Medicine» wollen die Ärzteschaft sensibilisieren – gegen Überversorgung, gegen unnötige Untersuchungen. Aber wirken sie auch? Jetzt gibt es erste überraschende Antworten.

, 15. Oktober 2015 um 04:00
image
Vor Tausenden von Jahren gab es ein Gesetz, wonach allzu ehrgeizige Chirurgen mit dem Verlust einer Hand oder eines Auges bestraft wurden. Heute ist zum Glück alles etwas anders: Beginnend in den angelsächsischen Ländern, geht man das Problem mit Kampagnen an – etwa mit der Aktion «Choosing Wisely», die vor drei Jahren gegen unnötige medizinische Verfahren und Therapien lanciert wurde.
Nebst Kosteneinsparungen wollen solche Initiativen auch zur Patientensicherheit beitragen. Schliesslich belasten Überdiagnosen die Betroffenen körperlich wie seelisch unnötig. Mehr noch: Sie haben keinen messbaren Nutzen oder bergen laut der Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM) gar Risiken.

«Überdiagnosen ist das grösste Problem der Medizin»

Das Ziel von Sensibilisierungs-Initiativen wie «Choosing Wisely»: Das medizinische Personal soll nicht gleich auf das ganze Repertoire zurückgreifen. Also nach dem Blutdruck messen soll – überspitzt formuliert – nicht gleich noch ein EKG, ein umfassender Bluttest oder gleich eine kernspintomografische Ganzkörperuntersuchung folgen.  
Denn die entscheidende Frage bleibt immer: Retten die aufwendigen Untersuchungen Leben? Decken Sie Krankheiten auf?
Ein wichtiger Protagonist der Selbstbeschränkungs-Kultur der letzten Jahre war Gilbert Welch, Professor an der Dartmouth Medical School in New Hampshire: Er ist Autor des populärwissenschaftlichen Bestsellers «Die Diagnosefalle». Wo er Überdiagnosen als das grösste Problem der modernen Medizin bezeichnete.

Weniger bildgebende Verfahren – mehr Medikamente

So propagieren im Zuge dieser Erkenntnisse immer mehr Kampagnen rund um den Globus, dass weniger Medizin mehr sein kann. 
Nur: In der Praxis werden solche Guidelines und Initiativen offenbar wenig beherzt.
In einer aktuellen Studie in den USA zeigt sich nämlich, dass die Veränderungen seit der Lancierung der «Choosing Wisely»-Aktion im Jahre 2012 eher bescheiden ausgefallen sind. Aus den mehr als 70 Listen mit etwa 400 Empfehlungen haben die Forscher nun sieben häufig verwendete medizinische Praktiken oder Verfahren untersucht.

Alan Rosenberg, Abiy Agiro, Marc Gottlieb et. al.: «Early Trends Among Seven Recommendations From the Choosing Wisely Campaign», in: «JAMA Internal Medicine», Oktober 2015.

Viel hat sich dabei nicht geändert, wie die in «Jama Internal Medicine» publizierten Resultate nun belegen. Nur in zwei von sieben Fällen gingen die Untersuchungen zurück.

  • Der Einsatz bildgebender Diagnostik bei unkomplizierten Kopfschmerzen sank von 14,9 auf 13,4 Prozent.
  • Die kardiale Bildgebung bei Patienten ohne Vorgeschichte sank seit der Einführung von «Choosing Wisely» von 10,8 auf 9,7 Prozent.
  • Die Anwendung von verschreibungspflichtigen nichtsteroidale entzündungshemmende Medikamente (NSAID) für Bluthochdruck, Herzinsuffizienz oder chronischen Nierenerkrankungen erhöhte sich von 14,4 auf 16,2 Prozent.
  • HPV-Test (Humane Papillomviren) bei jüngeren Frauen unter 30 stieg von 4,8 auf 6,0 Prozent.
  • Antibiotika bei einer akuten Nasennebenhöhlenentzündung (Sinusitis) sank marginal von 84,5 auf 83,7 Prozent.
  • Die Verwendung von präoperativen Röntgenaufnahmen der Brust sowie die Bildgebung für unspezifische Schmerzen im unteren Rücken bei unauffälliger Anamnese blieb ohne signifikante Änderungen.

Autoren fordern mehr Massnahmen

Die Studienautoren um Alan Rosenberg – er arbeitet beim Krankenversicherer Anthem – halten die klinische Bedeutung der Ergebnisse für unklar. Sie räumen allerdings auch gewisse Schwächen bei der Datenaufbereitung ein.
Trotz allem legte Rosenberg und seine Koautoren nahe, dass in der Praxis zusätzliche Massnahmen erforderlich seien. Nur so könne man «Choosing Wisely» breiter umsetzen. Als Vorschläge nennen die Autoren etwa: bessere Kontrolle des Datenrückflusses, Kommunikationstrainings für Ärzte, Entscheidungshilfen bei elektronischen Patientenakten, klinische Scorecards, patientenorientierte Strategien oder finanzielle Anreize.
«Choosing Wisely» heisst so viel wie «Entscheide klug». Die Initiative wurde 2012 in den USA ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Überdiagnosen vermeiden. Immer mehr Länder zogen mit eigenen Initiativen nach. Das schweizerische Pendant zur US-Initiative heisst «Smarter Medicine», ins Leben gerufen von der SGIM. Ein Übersichtsartikel in der «Schweizerische Ärztezeitung» stellt die Kampagne vor.  
Es gibt aber auch kritische Stimmen zu solchen Initiativen. So schrieben die Autoren eines Fachartikels Anfang dieses Jahres im Magazin «Neurosurgery», dass die Anwendung von «Choosing Wisely» für Kopfschmerzen bei Patienten mit Hirntumoren zu einer relevanten Anzahl von Fehleinschätzungen führte.

 

Video der Aktion «Choosing Wisely» in den USA



«Es gibt Tests, Behandlungen und Eingriffe, die du wirklich nicht brauchst», wird da zum Pharell-Williams-Song «Happy» gesungen. «Manche sind ganz nützlich, andere bestenfalls irreführend.»

Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Zwei neue Ärztinnen in Hasliberg

Ab 1. Mai 2025 verstärken Dr. med. Stefanie Zahner-Ulrich und Dr. med. (SRB) Sonja Krcum Cvitic das Team der Rehaklinik Hasliberg. Mit ihren fundierten Erfahrungen in Allgemeiner Innerer Medizin bzw. Physikalische Medizin und Rehabilitation erweitern sie gezielt die medizinische Kompetenz der Klinik

image

«Temporärvermittler müssen derzeit als Sündenböcke herhalten»

Der kollektive Verzicht auf Temporärpersonal mache wenig Sinn, sagt Florian Liberatore von der ZHAW. Er vermutet hinter dem Schritt strategische Motive.

image

In Dänemark können Ärzte Behandlungsfehler ohne Angst zugeben

Weil hohe Kosten drohen, schweigen Ärzte und Spitäler oft zu Behandlungsfehlern. Es ginge auch anders.

image

Spital Lachen rückt die Gefässmedizin ins Zentrum

Gefässerkrankungen sind verbreitet und können Menschen jeden Alters betreffen. Unbehandelt können schwerwiegende Komplikationen wie Gefässverschlüsse oder Organschäden folgen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist essenziell – genau hier kommt das Gefässzentrum des Spitals Lachen ins Spiel.

image

Die digitalisierte Patient Journey in der Lindenhofgruppe

Die digitale Patient Journey ist in Schweizer Spitälern etabliert. Sie erleichtert Patient:innen die Planung, Vorbereitung und Begleitung rund um den Spitalaufenthalt und entlastet das medizinische Personal – besonders bei psychisch belastenden Situationen im Vorfeld.

image

Auch die PUK senkt die Arbeitszeit ihrer Assistenz- und Oberärzte

Nach dem USZ, dem KSW und der IPW senkt auch die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich die Sollarbeitszeit für Assistenz- und Oberärzte von 50 auf 46 Stunden.

Vom gleichen Autor

image

Arzthaftung: Bundesgericht weist Millionenklage einer Patientin ab

Bei einer Patientin traten nach einer Darmspiegelung unerwartet schwere Komplikationen auf. Das Bundesgericht stellt nun klar: Die Ärztin aus dem Kanton Aargau kann sich auf die «hypothetische Einwilligung» der Patientin berufen.

image

Studie zeigt geringen Einfluss von Wettbewerb auf chirurgische Ergebnisse

Neue Studie aus den USA wirft Fragen auf: Wettbewerb allein garantiert keine besseren Operationsergebnisse.

image

Warum im Medizinstudium viel Empathie verloren geht

Während der Ausbildung nimmt das Einfühlungsvermögen von angehenden Ärztinnen und Ärzten tendenziell ab: Das besagt eine neue Studie.