Tarifeingriff ohne Durchgriff: Wie soll das gehen?

Mit dem Tarifeingriff will der Bundesrat die Prämienzahler entlasten. Aber wenn jetzt die Limitationen aufgeweicht werden, passiert das Gegenteil: Die Einsparungen von 470 Millionen werden zunichte gemacht. Von Pius Zängerle.

, 13. Oktober 2017 um 12:00
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Mit viel Elan hat Bundesrat Alain Berset nach dem Scheitern der Tarmed-Revision das Heft in die Hand genommen und kraft seines Amtes selber in den ambulanten Ärztetarif eingegriffen. Im Frühling legte er einen bemerkenswerten Entwurf vor, den er im Zuge der Vernehmlassung beziehungsweise nach lautstarken Protesten von Ärzten und Spitälern zwar abschwächte: Statt einer Entlastung von 700 Millionen Franken versprach er den Prämienzahlern eine Dämpfung von noch 470 Millionen, was aber immer noch ein erklecklicher Betrag ist. 
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    Pius Zängerle

    Pius Zängerle ist seit Mai 2015 Direktor des Krankenversicherer-Verbandes Curafutura, in dem sich Helsana, CSS, KPT und Sanitas vereinigt haben. Zuvor war er unter anderem Präsident des KKL in Luzern gewesen. Politisch wirkte er bis 2015 als Kantonsrat für die CVP.

Ob diese Entlastung Tatsache wird, ist jedoch ungewiss. Denn die geplante Verordnung könnte entscheidend von der Vernehmlassungsvorlage abweichen.
Im Nachgang zur Kommunikation über die Prämien 2018, in die der Tarifeingriff eingerechnet wurde, bekräftigt das BAG das Einsparziel zwar gebetsmühlenartig. Aber es betont auch, dass das an den Leistungserbringern liege, die korrekt abrechnen müssten, und an den Versicherern, welche die Abrechnungen von Ärzten und Spitälern gewissenhaft zu überprüfen haben.

Nett gesagt, aber schelmisch

Das ist nett gesagt, aber schelmisch bis unaufrichtig, wenn man an die beiden geplanten Sonderregelungen bei der Zeitbegrenzung von medizinischen Behandlungen denkt. Mit diesen Sonderregelungen untergräbt das BAG nicht nur die Einsparungen, sondern auch, was es von den Tarifpartnern einfordert: korrektes Abrechnungsverhalten bei den Leistungserbringern und eine effektive und effiziente Rechnungskontrolle durch die Versicherer.
Die erste Spezialregel betrifft Kinder unter 6 Jahren und Erwachsene über 75. Aus politischen Gründen wurde der erlaubte Zeitbedarf verdoppelt. Aus Erfahrung wissen wir, dass Leistungserbringer solche «Ausnahmen» zur Kompensation von Einbussen nutzen – unabhängig davon, ob eine Verdoppelung des Behandlungsbedarfs angezeigt ist. Schon heute werden häufig Zeit-Maxima fix verrechnet, auch wenn weniger Zeit beansprucht wurde. Die altersbedingte Ausnahmeregel ist gemäss den Zahlen der Versicherer sachlich unbegründet. Aber immerhin kann man sie ordentlich überprüfen.

Haben wir etwa nichts Besseres zu tun?

Nicht überprüfbar ist hingegen die zweite Sonderregelung. Für Patientinnen und Patienten von 7 bis 74 Jahren dürfen Ärzte und Spitäler die neu definierte Limitierung ebenfalls überschreiten, sofern ein «erhöhter Behandlungsbedarf» bei «komplexen Fällen» besteht. Dazu müssen sich die behandelnden Ärzte jedoch fallweise mit der Versicherung des Patienten absprechen. Was im Einzelfall problemlos erscheint, wird den Administrationsaufwand explodieren lassen. 
Der Spitalverband H+ rechnet mit jährlich 5 Millionen Fällen. Das sind 13'700 Fälle pro Tag. Glaubt das BAG tatsächlich, dass Leistungserbringer und Versicherer nichts Besseres zu tun haben, als diese Fälle miteinander durchzukauen?
Man könnte es meinen, denn das Bundesamt empfiehlt den Tarifpartnern eine «einfache Lösung» bei der Handhabung dieser Fälle – also quasi husch, husch am Telefon, während der Patient im Behandlungszimmer darauf wartet, dass es weitergeht.

Interpretationsspielraum gleich Knatsch

Kein Wunder, wehren sich Mediziner und Versicherer dagegen, dass sich das BAG die Aufgabe so einfach macht und die heisse Kartoffel den Tarifpartnern in die Hände wirft. Die Folgen sind absehbar: Interpretationsspielraum schafft Unsicherheit und Knatsch.
Letztlich gibt es nur zwei Möglichkeiten aus der BAG-Sackgasse:

  • Man folgt der Idee von Ärzten und Spitälern, welche die Versicherer einfach «informieren», sobald sie die Sonderregel anwenden. Dann gibt es nichts mehr zu kontrollieren, sondern nur noch zu zahlen. Das wird in die Hunderte von Millionen gehen und macht den Prämieneffekt des Tarifeingriffs mit einem Schlag zunichte.
  • Besser aber wäre, das BAG verzichtet auf seine fatale Fehlregulierung und streicht mindestens die zweite Sonderregel. Damit wird das Einsparziel nicht schon vor Einführung ausser Kraft gesetzt.
Das wird den Ärzten und Spitälern natürlich nicht gefallen. Aber damit würden auch sie von der Fehlregulierung verschont, die sie in Gang gebracht haben und über die sie sich nun empören. 


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