«Der Tardoc wird Hausärzte besserstellen»

Die FMH-Präsidentin über den Fachärztemangel, die Dringlichkeitsklausel, die Ärztedichte, den Tardoc und das BAG.

, 21. März 2023 um 05:00
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FMH-Präsidentin Yvonne Gilli: «Die neue Generation von Ärztinnen und Ärzten wird nicht bereit sein, 55 Arbeitsstunden pro Woche zu leisten. | cch
Frau Gilli, das Parlament hat vergangene Woche einer Dringlichkeitsklausel zugestimmt. Die dreijährige Tätigkeitspflicht bei einer schweizerischen Weiterbildungsstätte entfällt. Ein Tropfen auf den heissen Stein? Genau. Wir sind aber froh, dass es diesen Tropfen überhaupt gibt. Wir brauchen diese Ausnahmeklausel dringend im Bereich der Grundversorgung, wo der Mangel an Ärzten und Ärztinnen mit den überlaufenen Notfallstationen oder in der Kindermedizin und in gewissen Kantonen für Jugendpsychiatrie besonders sichtbar ist.
Was meinen Sie mit besonders sichtbar? Im Bundeshaus geht man davon aus, dass wir in der spezialärztlichen Medizin eine Überversorgung hätten. Das stimmt aber nicht. Wir haben jetzt schon an einzelnen Orten in den spezialmedizinischen Disziplinen eine Unterversorgung, die sich weiter akzentuieren wird. Gelockert werden die Bestimmungen nur für die Grundversorgung, also für die Kindermedizin, Hausarztmedizin und für Jugendpsychiaterinnen und Jugendpsychiatern.
Also dort, wo wir einen Engpass haben. Das genügt doch, oder? Eben gerade nicht. Es gibt Regionen, wo wir schon heute einen Mangel an spezialmedizinischer Versorgung haben.
Zumindest an Orthopäden soll es angeblich nirgends mangeln. Das ist auch so ein Missverständnis: Bei den Versorgungsgraden spricht man nur von Orthopäden oder von Herzspezialisten und Herzspezialistinnen. Diese decken nicht das ganze Gebiet ab, sondern spezialisieren sich weiter. So gibt es die Herzchirurgie, die interventionelle Kardiologie und so weiter. Ich könnte Ihnen nicht mal alle Spezialisierungen aufzählen.
Auch in der Orthopädie gibts eine Hochspezialisierung. Da gibt es Ärztinnen und Ärzte, die nur im Bereich der Wirbelsäule arbeiten, andere haben sich auf einzelne Gelenke spezialisiert. Man kann die benötigte Anzahl Ärzte und Ärztinnen nicht über den Facharzttitel regeln. Es braucht mehr Flexibilität.
Was wäre demnach zu tun? Statt einer starren Mikroregulierung bei der Zulassung brauchen wir ein flexibles Zulassungsgesetz. Ein Gesetz, das nicht nur bei manifesten Mängeln Handlungsoptionen gewährt, sondern den Kantonen mehr Spielraum gibt, um auch bei drohenden Mängeln aktiv zu werden. Die mangelhafte Versorgung ist regional sehr unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren ab. Doch den Kantonen fehlt der Handlungsspielraum, um mit den kantonalen Ärztegesellschaften einen drohenden Ärzte- und Ärztinnenmangel rechtzeitig zu erfassen und Massnahmen dagegen zu ergreifen. Das heute gültige Zulassungsgesetz ist untauglich.
Glauben Sie, dass sich daran etwas ändert? Das Zulassungsgesetz ist in Bundesbern kaum ein Thema. In der Ärzteschaft ist es ein riesiges Thema. Das Zulassungsgesetz ist jetzt teilrevidiert worden. Es muss weiter revidiert werden. Auch die Kantone haben ein Interesse daran, mehr Handlungsspielraum zu haben.
Vielleicht bräuchte es im Nationalrat mehr Ärztinnen oder Ärzte. Die wenigen, die wir haben, sitzen nicht mal in der Gesundheitskommission. Wir wären natürlich glücklich, es gäbe im Milizparlament mehr Ärztinnen und Ärzte, die selber auch noch im Beruf tätig sind. Ein Bezug zur Praxis ist immer gut. Aber das ist aus meiner Sicht nicht das vordergründige Problem. Der Praxisbezug fehlt mir dagegen in den zuständigen Ämtern, beim Bundesamt für Gesundheit, dem BAG.
Ist das wirklich ein Problem? Wenn dort in den Schlüsselpositionen keine Ärztinnen und Ärzte mehr wirken, die mit der klinischen Medizin gut vernetzt sind, dann fehlt die Expertise, dann gibt es eine ganz andere, vor allem eine rein juristische Betrachtungsweise. Für eine vorausschauende Optik in einem komplexen System ist das nicht dienlich.
Seit ich die Gesundheitspolitik verfolge, seit rund 25 Jahren, ist die wachsende administrative Belastung der Ärzteschaft ein Dauerbrenner. Also schon zu Zeiten, als im BAG mit Thomas Zeltner, Heinrich Brunner und Peter Indra ausgebildete Ärzte Schlüsselpositionen besetzten. Das Problem hat sich in den letzten Jahren und mit den unzähligen Gesetzesrevisionen deutlich akzentuiert. Das bestätigen entsprechende Umfragen. Wir können es uns beim herrschenden Fachkräftemangel schlicht nicht leisten, die beruflichen Rahmenbedingungen stets zu verschlechtern. Letzte Woche habe ich an einer ärztlichen Versammlung in Zürich von einer jungen Hausärztin gehört, die während der Weiterbildung den Beruf wegen der administrativen Last verlassen hat. Sie wollte nicht zwei Drittel ihrer Arbeitszeit am Computer verbringen.
Das gleiche gilt für die pensionierten Ärzte und Ärztinnen. Wir haben heute eine Alterung in der Hausarztmedizin wegen der Babyboomer-Generation. Die meisten arbeiten über 65 hinaus bis 70 oder 75. Diese Ärzte haben es nicht nötig, immer schlechtere Rahmenbedingungen in Kauf zu nehmen. Wenn nicht ganz gezielt Massnahmen gegen die administrative Last unternommen wird, werden wir diese Ärzte auch noch verlieren und den Fachkräftemangel unnötig verschärfen.
Niemand bestreitet den Mangel an Ärztinnen und Ärzte. Man muss aber auch sagen: Wir haben die grösste Ärztedichte Europas. Das stimmt so nicht.
Sagen wir eine der grössten. Gemäss der OECD-Statistik 2020 wurden in Österreich 5,2 Ärztinnen und Ärzte pro 1000 Einwohner gezählt. In der Schweiz sind es 4,5, in Deutschland 4,3 und in Frankreich 3,2 Ärztinnen und Ärzte. Gemessen an Vollzeitäquivalenten haben wir eine Ärztedichte von 3.9. Es gibt keine konsolidierte Haltung in der Schweiz, welche Ärztedichte wir wollen. Die Versorgung ist auch kulturspezifisch. Wenn wir ein striktes Gatekeeping-Modell haben wie in England, wo Hausärzte in einem völlig anderen Kontext arbeiten, wo sie viel weniger abschliessend behandeln als in der Schweiz, dann braucht es eine andere Zahl an Allgemeinmedizinern mit einer ganz anderen Ausbildung. Ein Ländervergleich der Ärztedichte sagt auch nichts über die medizinische Versorgung, über die Qualität und den Zugang zu teuren Therapien aus.
Dann gibts auch noch die Aussage, dass 20 Prozent der ärztlichen Behandlungen medizinisch nicht indiziert sind. So hat das noch niemand gesagt: Gemäss der Strategie «Gesundheit2020» des Bundesrats sollen wir in der medizinischen Versorgung ein Sparpotenzial von 20 Prozent haben. Darin sind auch die administrativen Arbeiten enthalten, die mit der medizinischen Leistung nichts zu tun haben. Abgesehen davon beruht diese Aussage nicht auf einer soliden statistischen Basis.
Nochmals zum Hausärztemangel. Ist daran nicht auch der Tarmed schuld? Es gab ja einen Streit zwischen Fach- und Hausärzten, der bis zum Streik der Hausärzte führte. Man sprach damals von einer Zerreissprobe. Wir haben schon lange keinen Streit mehr zwischen Hausärzten und Fachärzten. Wir haben den Tardoc entwickelt. 2019, also vor vier Jahren, wurde er erstmals dem Bundesrat zur Genehmigung eingereicht. Dort sind sowohl Hausärztinnen und Fachärzte mit einbezogen, und wir haben in der Ärzteschaft eine Zustimmung von 100 Prozent. Der Tardoc stärkt die Hausarztmedizin. Es gibt ein eigenes Kapitel für Hausärzte.
Tardoc? Da habe ich etwas verpasst. Wir warten immer noch auf die Genehmigung. Sie ist nicht durch die Ärzteschaft, sondern durch den Bundesrat verzögert worden. Wir hoffen sehr, dass der Bundesrat den Tardoc aufs erste Quartal 2024 genehmigen wird. Gerade für Hausärztinnen und Hausärzte ist er besonders wichtig, weil sie dadurch bessergestellt werden. Er ist aber auch wichtig für die Spezialärztinnen, weil die Tarife gepflegt werden können und betriebswirtschaftlich korrekt gerechnet sind.
Auch im Tarmed konnten doch die Tarife angepasst werden. Aber nur bei Einigkeit aller Tarifpartnern. Das ist eines der Hauptprobleme des Tarmed. Er spiegelt längst nicht mehr die betriebswirtschaftliche Situation, und die Tarife lassen sich aus politischen Gründen nicht den verändernden Umständen anpassen.
Der Tardoc, den Sie jetzt rühmen, sieht für ein 100-Prozent-Pensum 55 Wochenstunden vor. Finden Sie das gut? Das ist eine politische Vorgabe, die wir heftig bekämpfen. Sie ist absolut nicht mehr realistisch und nicht zeitgemäss. Die neue Generation von Ärztinnen und Ärzten - die junge Generation - wird nicht bereit sein, so viele Arbeitsstunden pro Woche zu leisten. Das ist aber ein gesellschaftliches Phänomen und ist nicht nur bei Ärzten und Ärztinnen zu beobachten. Aber der Tardoc ist viel besser als der Tarmed. Auch weil er gepflegt werden kann.
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