Es tönt wie ein zerknirschtes «Dann halt». Die grossen Ärzteverbände nehmen den Tarmed-Eingriff der Regierung zur Kenntnis; sie stellen befriedigt fest, dass der Bundesrat einzelne Kritikpunkte aufgenommen hat; sie erinnern aber nochmals daran, dass nun wohl die Gesundheitsversorgung beeinträchtigt werde; und sie wollen sich jetzt vor allem entschlossen daran machen, dass der Tarmed bald fundamental erneuert wird.
Die FMH sowie die Verbände der Haus- und Kinderärzte (mfe), der Chirurgen (fmCh) und der Psychiater und Psychotherapeuten (FMPP) nahmen heute Stellung zum Tarifpaket, welches Bundesrat Alain Berset am Mittwoch vorgestellt hatte. Dabei stellte FMH-Präsident Jürg Schlup eingangs die Befürchtung in den Raum, dass dieses zu noch mehr Bürokratie führe: «Ein solcher Tarifeingriff führt zu noch mehr Komplexität in der Anwendung des Tarifs und zu einer weiteren administrativen Mehrbelastung.»
«Kollateralschäden»
Weiter warnten die Ärzte, dass die koordinierende Rolle der Mediziner geschwächt werde – insbesondere durch die Einengungen bei den verrechenbaren Leistungen in Abwesenheit der Patienten. Ferner dass mit Engpässen und Wartezeiten zu rechnen sein wird, da diverse Eingriffe im ambulanten Bereich nicht mehr kostendeckend durchgeführt werden können.
«Diese Massnahmen des Tarifeingriffs führen zu Kollateralschäden in der ambulanten medizinischen Versorgung und verursachen nicht wie vom Bundesrat beabsichtigte Kostensenkungen, sondern Kostensteigerungen, weil es zu Verschiebungen in den teureren stationären Bereich kommt», sagte fmCh-Präsident Josef Emil Brandenberg. Er schätzt, dass rund 30 Prozent der erbrachten Leistungen nicht mehr kostendeckend durchgeführt werden können.
Einseitige Sparmassnahme
Kritisch äusserte sich auch Hausarzt-Vertreter Philippe Luchsinger – dessen mfe zuvor (als eine der ganz wenigen Ärzte-Organisationen) eine
recht positive Einschätzung zu Alain Bersets Tarmed-Projekt abgegeben hatte.
Eine nachhaltige Stärkung der Grundversorgung werde mit dem Paket nicht erreicht, so jetzt Luchsingers Fazit. «Wir begrüssen die Aufwertung der ärztlichen Grundleistungen», so der Hausarzt aus Affoltern am Albis, und weiter: «Die Einebnung der quantitativen Dignität begrüssen wir, weil so die aus unserer Sicht ungerechtfertigten Einkommensunterschiede unter verschiedenen Fachärzten aufgehoben werden.»
«In der Psychiatrie dauern Gespräche länger als 20 Minuten»
Für die Psychiater ergriff Verbandspräsident Pierre Vallon das Wort. Den Romand stört, dass nur noch 20-minütige Telefonkonsultationen abgerechnet werden dürfen. «Gespräche mit psychisch kranken Personen dauern meistens länger als 20 Minuten, manchmal bis eine Stunde», erklärte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Morges.
Trotzdem: Letztlich sei der Tarifeingriff «weder sachgerecht noch betriebswirtschaftlich korrekt. Sonst müssten neben der Abwertung von überteuerten Leistungen auch die Anpassung der durch die Teuerung zu günstig tarifierten Leistungen durchgeführt werden.»
Augen auf und durch
Kurz: unterm Strich sei der Eingriff eine einseitige Sparmassnahme mit negativen Nebenwirkungen: «Insgesamt macht dieser Eingriff die Gesundheitsversorgung wahrscheinlich teurer.»
Die Hauptkritik der Ärzte lautet jedoch: nicht sachgerecht. «Wir sind nicht prinzipiell gegen den Tarifeingriff gewissen», so FMH-Vorstandsmitglied Urs Stoffel. «Uns stört, dass er nicht sachgerecht und nicht betriebswirtschaftlich ist.» Bersets Paket sei «eine einseitige, politisch motivierte Kostensenkung», welche «zu Kollateralschäden in der ambulanten medizinischen Versorgung führen» werde, meinte der Chirurg Urs Stoffel, der in Zürcher Spitälern als Belegarzt tätig ist.
Die Ärzte anerkennen dennoch, dass die Sache momentan gelaufen ist – weshalb jetzt die Gesamtrevision entschlossen angegangen werden soll: Augen zu und durch. Also arbeiten momentan gut 150 Personen in 30 Arbeitsgruppen am
FMH-geleiteten Tarifrevisionsprojekt «Tarco». Der neue Tarifvorschlag soll bald mit den Partnern diskutiert werden – mit dem Ziel, ihn Mitte 2018 dem Bundesrat zur Genehmigung einzureichen.
Pierre Vallon, Präsident FMPP; Philippe Luchsinger, Präsident mfe; Jürg Schlup, FMH-Präsident; Josef Brandenberg, Präsident fmCh; Urs Stoffel, Vorstandsmitglied FMH. | Bild: cch
Es geht ums Finanzierungsmodell
Im Rahmen des Auftritts in Bern nahmen die Ärzte auch Stellung in der Debatte um das grundsätzliche Finanzierungsmodell. Sie plädieren für die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen; dies sei eine effiziente Massnahme, um massiv Kosten zu dämmen.
Die Politik wolle dass der ambulante Bereich auf Kosten des stationären Bereichs wächst, sagte FMH-Präsident Jürg Schlup. «Gleichzeitig wertet der Bundesrat den ambulanten Tarif ab, diskutiert das Parlament ein Globalbudget zur Einschränkung des ambulanten Bereiches und eine Zulassungsbeschränkung für ambulant tätige Ärzte. Statt das Problem der Fehlanreize an der Wurzel anzupacken, nämlich die Finanzierung von ambulanten und stationären Behandlungen zu vereinheitlichen, werden nun allein die ambulant tätigen Ärzte in Spital und Praxis mit dem bundesrätlichen Tarifeingriff abgewertet.»
Und dies, so Schlup weiter, obwohl ambulante Kosten gerade mal 15 Prozent der Gesamtausgaben ausmachen. Mit einer konsequenten Anwendung des Grundsatzes «ambulant vor stationär» könnten pro Jahr 1 Milliarde Franken gespart werden – «ohne Abstriche von Leistungen wie beim Tarifeingriff.»