Spitex: Mehr Luft für private Initiativen

In der ambulanten Pflege droht der Schweiz eine Kosten-Explosion: Dies besagen neue Daten. Die privaten Spitex-Organisationen fordern jetzt eine klare Reaktion. Zum Beispiel ein Tarmed-System in diesem Bereich.

, 21. August 2015 um 10:06
image
  • spitex
  • pflege
  • gesundheitskosten
  • politik
Kostenexplosion und Versorgungslücken: Das droht der Schweiz in der ambulanten Pflege bis 2035. Zumindest falls sie ihre Politik nicht grundsätzlich ändert. 
So stellt es die Association Spitex privée Suisse ASPS fest. Sie belegt es mit einer Studie, die heute von Stefan Felder präsentiert worden war; Felder ist Professor für Health Economics an der Universität Basel.
Um das aufgezeigte Problem unter Kontrolle zu kriegen, müsse etwas geschehen bei der Finanzierung, beim Marktzugang sowie bei der Wahlfreiheit für die betroffenen Menschen.

Mehr Patienten mit mehreren Krankheiten

Was steckt dahinter? Wachstum und Alterung der Bevölkerung sowie steigende Ansprüche treiben den Bedarf an Pflegeleistungen jährlich nach oben. Gesundheitsökonom Stefan Felder extrapoliert nun, dass die Pflegebedürftigkeit bis 2035 um 57 Prozent zunehmen werde.
Greifbar wird dabei insbesondere eine Versorgungslücke in der ambulanten Pflege – dies nicht nur, weil es mehr Bedürftige geben wird, sondern auch, weil in einer älteren Bevölkerung mehr Pflegebedürftige gleich an mehreren Krankheiten leiden. Hinzu kommen steigende Ansprüche.
Klar wird: Die Nachfrage nach professionellen Pflege- und Betreuungsleistungen wird steigen – unwiderruflich.

Von 10 auf 30 Milliarden

Laut der Studie werden die Kosten insbesondere im stationären Bereich weiter klettern. Die jährlichen Pflegeausgaben werden sich bis 2035 fast verdreifachen – von derzeit 10,9 Milliarden auf 30,2 Milliarden Franken.
Zwar bremst die Pflege zu Hause die Pflegekosten eher. Doch auch die Kosten für die ambulante Pflege dürften sich bis 2035 fast verdreifachen. Denn eine gewisse Wirkung hat hier zum Beispiel der Trend zum Einpersonen-Haushalt. Allerdings erwarten die Studien-Autoren auch grosse kantonale Unterschiede: Mit dem steilsten Anstieg müsse Nidwalden rechnen, den geringsten Zuwachs dürfe Basel-Stadt erwarten.

Stefan Felder et. al., «Die Rolle der privaten Spitex in der ambulanten Pflege – heute und in 20 Jahren», August 2015.

Dabei stellen Stefan Felder und sein Team fest, dass in der Schweiz relativ wenige Pflegepatienten zu Hause versorgt werden. Und im internationalen Vergleich ist der Anteil der ambulanten Pflegeausgaben mit 12 Prozent auch sehr tief; in Deutschland beispielsweise beträgt die Quote 34 Prozent.
Bei den Anbietern ist das Angebot andererseits eingegrenzt. Oder anders: Die Übermacht der öffentlich-gemeinnützigen Spitex ist sehr gross. Im Bereich der ambulanten Spitex sind nur 18 Prozent der Anbieter privat-organisiert. Für die Gesundheitsökonomen ist dies ein Hinweis darauf, dass es in der Schweiz allzu grosse Hürden gibt für einen Markteintritt.

Ist es eine verpasste Spar-Chance?

Dabei wären private Anbieter oft effizienter, meint der Privat-Spitex-Verband ASPS. Hier scheint sich also eine verpasste Spar-Chance zu eröffnen – eine Chance, die angesichts der stetig wachsenden Kosten jetzt langsam ergriffen werden sollte.
«Heute besteht eine krasse rechtliche Ungleichheit zwischen der so genannten öffentlich-gemeinnützigen Spitex und der privat-erwerbswirtschaftlichen Spitex», sagte Rudolf Joder, der Präsident der ASPS, bei der Präsentation der Daten: «Die privat-erwerbswirtschaftliche Spitex wird im Gesetz benachteiligt sowie diskriminiert, und ihr Marktzutritt wird erschwert.»

Mehr Wahlfreiheit

Als augenfälliges Beispiel nannte Nationalrat Joder (SVP) die ungleiche Mehrwertsteuer-Behandlung bei den Leistungen der Betreuung und Hilfe im Haushalt.
Die finanzielle Belastung der öffentlichen Hand könne nur mit einem Systemwechsel gesenkt werden. Aber was heisst das konkret?
Gegen die drohende Versorgungslücke und Kostenexplosion empfiehlt die Studie aus Basel eine Reform der Langzeitpflege mit vier Elementen:

  • Subjekt- statt Objektfinanzierung: Künftig sollen ausschliesslich die erbrachten Pflegeleistungen vergütet und keine Institutionen mehr subventioniert werden. Damit werden nur Pflegeleistungen finanziert, und die Patienten haben bei den Anbietern die freie Wahl.
  • Pauschalvergütungen gemäss Leistungskatalog: Ähnlich wie in der ambulanten (Ärzte-Tarmed) und der akutstationären Medizin (Spital-SwissDRG) sollen auch bei der Spitex Pflegeleistungen zusammengefasst und aufwandgerecht mit Pauschalen vergütet werden. Dies führe zu höherem Kostenbewusstsein.
  • Freier Wettbewerb aufgrund von Preis und Qualität: Die geforderte Finanzierung über Leistungen erlaube es den Betroffenen, ihren Spitex-Anbieter frei zu wählen – ob öffentlich-gemeinnützig oder privat-erwerbswirtschaftlich. Der damit verbundene Wettbewerb führe dazu, dass jene Spitex-Organisationen im Markt verbleiben, die ein umfassendes, gutes und günstiges Pflegeangebot bieten. 
  • Vollangebot aus einer Hand: Die ambulanten Leistungserbringer müssten flexibel und rasch auf die sich ändernde Nachfrage reagieren und eine breite Palette an Dienstleistungen aus einer Hand anbieten können. Vor allem aber müsse das Pflegeangebot mit Betreuungsleistungen ergänzt werden. 

Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Pflegefachfrau als «Jungunternehmerin des Jahres» gewürdigt

Alessia Schrepfer wurde für die Gründung von WeNurse mit dem Women Award des Swiss Economic Forum ausgezeichnet.

image

4-Tage-Woche in der Pflege: Ernüchterndes Ergebnis

Ein deutsches Spital führte neue Arbeitszeit-Angebote ein. Nach der Anfangseuphorie kam der Alltag.

image

Krebsmedikamente haben Gewinnmarge von 85 Prozent

Ein altes Anliegen ist erneut im Parlament: die horrenden Kosten für Krebsmedikamente.

image

Corona: Kein Ausfall-Geld für die Spitäler

Der Bund will sich nicht an den pandemiebedingten Ertragseinbussen der Spitäler beteiligen.

image

Ältere Ärztinnen und Ärzte werden vom EPD befreit - wenigstens vorläufig

Wird die Ärzteschaft dazu gezwungen, das EPD bereits in zwei Jahren aufzuschalten, könnten die älteren Semester vorzeitig abspringen.

image

EPD: Übungsabbruch ist kein Thema

Nach dem Nationalrat stimmt am Dienstagmorgen auch der Ständerat einer Übergangsfinanzierung für das EPD zu.

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.