Spital Thun in der Kritik – weil es keine Babyklappe hat

Gäbe es im Spital Thun eine Babyklappe hätte man kein Neugeborenes im Werkhof von Därstetten gefunden, wird gemutmasst. Doch Spitäler bieten lieber «vertrauliche Geburten» an.

, 8. Januar 2020 um 08:09
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Die Betroffenheit war gross, als eine Mutter vor wenigen Tagen ihr Neugeborenes in einer Kartonschachtel im Werkhof Därstetten aussetzte. Warum hat die Frau ihr Kind nicht in eine Babyklappe gelegt? So lautete eine der Fragen, die sich viele Leute stellten.
Das nächste Babyfenster, das die Frau hätte erreichen können, gibt es im Berner Lindenhofspital. Es brauche aber auch im Berner Oberland mehr Babyfenster, sagte Thomas Knutti, Gemeindepräsident von Därstetten und SVP-Vertreter im Berner Kantonsparlament gegenüber «Radio Bern 1».

Aus ethischen und rechtlichen Gründen gegen Babyfenster

In der Kritik steht nun das Spital Thun: Dieses hat sich schon vor Jahren gegen ein Babyfenster entschieden – aus ethischen und rechtlichen Gründen, wie das Spital gegenüber der «Berner Zeitung» sagte. Nicht alle können das nachvollziehen. Ein Leser kommentiert das Verhalten des Spitals mit harschen Worten: «Nimmt man zur Aufrechterhaltung von Ethik und Recht in Kauf, dass Neugeborene mitten im Winter auf Entsorgungshöfen deponiert werden?»
Das Spital Thun setzt wie viele andere Schweizer Spitäler statt auf eine Babyklappe lieber auf die so genannte «vertrauliche Geburt». Der grosse Unterschied zur Babyklappe: Nicht nur das Kind wird gut versorgt, sondern auch die Mutter erhält medizinische und psychologische Betreuung.

Babyklappe in Thun hätte kaum etwas geändert

Dominik Müggler, Präsident der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind, sagte ausserdem gegenüber der «Berner Zeitung», dass eine Babyklappe in Thun wohl kaum etwas am Vorgehen der Mutter in Därstetten geändert hätte. Denn die Mutter habe ein Auto und hätte nach Bern fahren können, wenn sie das Baby wirklich in eine Babyklappe habe legen wollen.
Fachleute, Kantone und auch der Bundesrat sehen vertrauliche Geburten eindeutig als bessere Lösung. Mütter können unter einem Decknamen gebären und werden im Spital speziell diskret behandelt. Sie bekommen ein Einzelzimmer, werden abgeschottet, ja können sogar zu Randzeiten und durch einen Hintereingang in die Geburtsklinik kommen.

Alle Angaben bleiben geheim

Bereits in der Schwangerschaft können Mütter eine vertrauliche Geburt wünschen. Ihre Personalien werden zwar hinterlegt, doch die Frauen erhalten ein Pseudonym oder einen Code für Vorsorgeuntersuchungen, Geburt und Nachsorge. Auf allen Akten steht der Vermerk «Vertraulich», die Angaben bleiben geheim.
Die richtigen Personalien sind nur wenigen involvierten Personen bekannt. Das Personal der Patientenauskunft und der Administration wird zur Verschwiegenheit verpflichtet. Sie dürfen keine Auskünfte an externe Personen im Zusammenhang mit der Patientin geben. Die Mutter erhält auch keine Arzt- und Spitalrechnungen an ihre Adresse. Sie gehen direkt an die Krankenkasse.

Manche Spitäler werben sogar für ihr Angebot

Viele Schweizer Spitäler bieten die vertrauliche Geburt an. Es mangelt nicht am Angebot für Frauen in Notlagen. Einige Spitäler verzichten zwar darauf, für diese Geburtsart zu werben, würden sie aber bei Bedarf anwenden.
Mittlerweile gibt es aber auch viele Spitäler, wie etwa Olten und Solothurn, oder das Kantonsspital Baselland, die offen mitteilen, dass Frauen bei ihnen gebären können, ohne dass es ihr Umfeld erfährt.

Bereits wenige Stunden nach der Geburt wieder frei

Das Kantonsspital Baselland beschreibt sogar auf seiner Website den Ablauf einer vertraulichen Geburt und verspricht: «Die Mutter kann - wenn es ihr Gesundheitszustand erlaubt - bereits wenige Stunden nach der Geburt das Spital verlassen.»
Die Mutter dürfe ihr Kind im Spital auch jederzeit besuchen. Bis zur Adoptionsfreigabe gilt eine Frist von sechs Wochen. Danach erhält die Mutter noch einmal eine sechswöchige Widerrufsfrist des Adoptionsverfahrens, bis das Kind definitiv in eine Adoptivfamilie gegeben werden kann.

Im Thurgau selten genutzt, «aber immerhin»

Auch in den beiden Kantonsspitälern Frauenfeld und Münsterlingen können Frauen seit knapp zehn Jahren vertraulich gebären. Das Angebot werde aber nur sehr selten genutzt, sagt Marc Kohler, Chef des Spitals Thurgau, auf Anfrage von Medinside. Es sei bisher weniger als zehn Mal vorgekommen.
Marc Kohler hat die Erfahrung gemacht, dass solche Angebote wohl aus Angst und wegen der ganzen psychischen Belastung bei den Gebärenden nur in seltenen Fällen auch wirklich angenommen würden. «Aber immerhin», fügt Kohler hinzu. Persönlich findet er das Angebot sehr sinnvoll. «Weil damit auch die Geburt selber medizinisch gut versorgt wird.»
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