«Manche Ungeimpfte verweigern sich der Realität. Es gibt Patienten, die sich noch kurz vor der Intubation froh zeigen, dass sie infiziert wurden – weil sie so auch ungeimpft ein Zertifikat erhalten», schildert Anja Heise, ärztliche Leiterin der Intensivstation des Spitals Thun, gemäss einem Bericht in den Tamedia-Zeitungen. Sie kritisiert ausserdem, dass Ungeimpfte oft sehr fordernd seien, wenn es darum gehe, jede erdenkliche Therapie zu erhalten.
Lange sehr zurückhaltend
Das ist ein neues Phänomen: Bisher haben sich Ärzte, Ärztinnen und Pflegefachpersonen höchstens im Privaten über ungeimpfte Corona-Patienten geäussert. Das scheint sich nun zu ändern. Immer mehr Gesundheitspersonal sagt offen, dass es vom Verhalten gewisser Patienten zumindest irritiert, wenn nicht sogar verärgert sei.
Miodrag Filipovic, ärztlicher Leiter der chirurgischen Intensivstation des Kantonsspitals St. Gallen, wundert sich zum Beispiel über die Anspruchshaltung einiger Patienten: «Viele verlangen für sich selber und ihre Angehörigen eine Maximaltherapie. Therapien, von denen sie in der Zeitung gelesen haben, oder gar ein nutzloses Wurmmittel.»
Zu viel persönliche Empfindsamkeit?
Ist das Gesundheitspersonal empfindlich geworden? Sollten Ärztinnen und Ärzte professioneller mit solchen Patienten umgehen können? Anja Heise stellt klar, dass es nicht mehr nur um persönliche Empfindsamkeit geht, sondern vor allem auch um das Recht anderer Patienten auf gute Betreuung.
Sie erzählt, dass manche Ungeimpfte zwar beim Spitaleintritt eine künstliche Beatmung ablehnten, ihre Meinung dann aber ändern würden, wenn sie die Luftnot in Todesangst versetzt. «In solchen Fällen will man alles für sich», sagt Heise. Den Preis würden dann manchmal auch Nicht-Covid-Patienten zahlen, die keinen Platz mehr auf der Intensivstation erhalten und verlegt werden müssen.
Belegärzte können nicht operieren
Das ist auch ein zunehmendes Problem für Belegärzte: Immer häufiger kritisieren sie mehr oder weniger offen, dass so viele ungeimpfte Corona-Patienten die Intensivbetten belegen.
Sie müssten Operationen verschieben, bei welchen im Anschluss an den Eingriff ein Intensivplatz zur Verfügung stehen muss. Betroffen sind auch Eingriffe, die aus Sicherheitsgründen nicht durchgeführt werden, wenn kein Intensivplatz zur Verfügung steht.
Schon jetzt eine «weiche» Triage
Kürzlich sagte der Kölner Universitätsklinikdirektor Michael Hallek gegenüber der deutschen Gesundheitsplattform Medscape: «Wir haben schon heute eine weiche Triage, die zum Beispiel dann eintritt, wenn ein Herzinfarktpatient eine Stunde im Rettungswagen herumgefahren wird, der kein Krankenhaus mit einem freien Intensivbett findet.»
Solche Entscheide – vielleicht über Leben und Tod – machen auch dem Pflegepersonal enorm zu schaffen. In den Tamedia-Zeitungen schildert Bettina Bergmann, Fachbereichsleiterin Intensivpflege im Spital Thun, eine belastende Situation, die sie erlebt hat.
Die Ohnmacht, nicht allen gerecht zu werden
Ihr Team musste einen Nicht-Covid-Patienten betreuen, bei welchem der Blutdruck massiv abfiel. Gleichzeitig habe das Beatmungsgerät bei einem anderen Patienten Alarm geschlagen. Normalerweise könnten andere Pflegende helfen, doch diese seien komplett absorbiert gewesen im Isolationszimmer bei den Covid-Fällen. «Es ist die Ohnmacht, nicht mehr allen gerecht werden zu können, die am meisten zu schaffen macht», sagt Bergmann.
Auch ihr Pflegekollege Herbert Leuthold in St. Gallen, sagt, er könne sich bei einem Verstorbenen nicht sagen, es habe einfach nicht mehr gereicht. So funktioniere das Pflegepersonal nicht.
Mehr Personal geht nicht
Mit mehr Personal auf den Intensivstationen liesse sich die Situation nicht so wie letzten Winter kurzzeitig entschärfen. Die meisten Personalverantwortlichen in den Spitälern sagen dasselbe: Sie können einfach nicht mehr zusätzliches Personal aufbieten.
Und noch viel schlimmer: Wird das Personal zu fest belastet, nimmt die Zahl der Kündigungen zu. Ein leitender Arzt erzählt: «Wenn ich jemanden schon zum dritten Mal ausnahmsweise für einen zusätzlichen Nachtdienst anfrage, will und kann der irgendwann einfach nicht mehr mitmachen.»
Immer mehr Emotionen
Beim Spitalpersonal liegen die Nerven derzeit blank. Heute seien mehr Emotionen drin, räumt Bettina Bergmann ein. Und sie verhehlt auch nicht, dass es manchmal schwierig sei, Verständnis für gewisse Patienten aufzubringen: «Besonders dann, wenn die Impfung bewusst abgelehnt und ein schwerer Verlauf in Kauf genommen wird.»
Miodrag Filipovic versteht auch nicht, wenn Ungeimpfte auf ihre Freiheit pochen, sich nicht impfen zu lassen, dann aber, wenn sie schwer erkranken, Solidarität vom Gesundheitspersonal erwarten und jene Ressourcen verbrauchen, die dann für andere Patienten fehlen. Das bringe letztlich alle in ein Dilemma - in ein fast unlösbares Dilemma.