«Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so erschüttert war»

Wie ist die Atmosphäre im OP, wenn ein Patient wegen eines ärztlichen Fehlers stirbt oder eine schwere Schädigung erleidet? Hier der Bericht einer Chirurgin.

, 23. Dezember 2015 um 15:00
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Wie nehmen Ärzte einen schweren Operations-Fehler auf? Die Frage stellte ein Patient jüngst auf der Informations-Plattform «Quora», und einen besonders eindrücklichen Bericht dazu lieferte Manuela Junqueira. Die Chirurgin, heute tätig am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York, erinnerte sich an eine Fehlamputation, deren Zeugin sie vor einigen Jahren wurde. Im Lichte der Ereignisse in der Clinica Sant'Anna mag der geschilderte Fall einer fälschlichen Mastektomie von besonderem Interesse sein.
IM ZWEITEN JAHR MEINER FACHARZTAUSBILDUNG zur Onkologie-Chirurgin erlebte ich solch einen Fall bei einem Eingriff an der Brust: Er war nicht tödlich, aber er verursachte eine schwere Behinderung.

Wir hatten drei Operationssäle gleichzeitig besetzt. Üblicherweise ist in jedem OP ein Facharzt anwesend, doch aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, wurde eine der Operationen durch zwei Leitende Ärzte ausgeführt. An einem bestimmten Punkt kam eine Pflegerin in den OP-Raum, in dem ich mich gerade befand. Sie war völlig bleich und sehr aufgeregt und sagte, dass im Raum nebendran etwas Schreckliches geschehe.

Ich war gerade dabei, meinen Eingriff abzuschliessen, und nachdem ich alle Verpflichtungen beendet hatte und den Patienten im Aufwachraum besucht hatte, kehrte ich zurück, um zu sehen, was los war.
Quelle und weitere Erlebnisberichte:
«What's the atmosphere like in the OR when a patient dies or suffers severe disability due to what is unambiguously a mistake by the surgeon?», in: «Quora». 
Es stellte sich heraus, dass die beiden Leitenden eine Mastektomie auf der falschen Seite vorgenommen hatten. Das heisst: Sie hatten die falsche Brust amputiert.
Die Patientin hatte eine neoadjuvante Chemotherapie erhalten – also eine Chemo zur Reduktion der Tumormasse vor einem operativen Eingriff –, und sie hatte vollständig darauf reagiert. Der Tumor verschwand gänzlich, er war nicht mehr ertastbar gewesen. Dennoch musste sich die Frau der Mastektomie unterziehen, denn der Tumor hatte vor der Therapie fast die ganze Brust befallen.

«Ich dachte, er stehe kurz vor einem Herzanfall»

Und so sah bei der Operation eine Brust aus wie die andere: kein Tumor, keine Narben.
Während die Patientin noch narkotisiert war, warteten wir im OP auf den Spitaldirektor. Jetzt sah ich zum ersten Mal den Chirurgen, der die Operation durchgeführt hatte; es war ein netter Kerl, und er war technisch gut. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so erschüttert war. Ich dachte, er stehe kurz vor einem Herzanfall. Er hasste sich selber, und er konnte gar nicht logisch denken.
Es tat mir sehr leid um die Patienten – aber auch sehr leid für ihn.
Es wurde entschieden, mit der Operation fortzufahren und die befallene Brust ebenfalls zu entfernen – so dass die Patientin am Ende beide Brüste verlor. Der Spitaldirektor selber wartete bei der Frau, bis sie aufwachte. Er rief auch die Familie an und erklärte den Fehler.

Es war wie auf einer Beerdigung

Ich war am nächsten Tag als Assistenzärztin im Dienst, so dass ich mit der Patientin zu tun hatte und mit ihr über das Geschehene reden konnte. Es war eine sehr nette Dame, und sie schien sehr verständnisvoll. Sie erklärte, dass sie eine dermassen gute Betreuung erhalten hatte in diesem Spital und alle so fürsorglich seien, dass sie keine Klage erheben werde (später änderte sie diese Meinung).
Auf jeden Fall war die Atmosphäre im OP wie auf einer Beerdigung. Alle fühlten sich absolut schrecklich: wegen der am meisten betroffenen Person – der Patientin –, aber auch wegen des Chirurgen. Wir alle spürten, dass wir, als Menschen, trotz besten Absichten immer auch versagen können.
Ich muss anfügen, dass wir damals noch nicht die Sicherheits-Checks hatten, die heute üblich sind – also zum Beispiel die Markierung der betroffenen Seite bei allen Massnahmen, welche doppelte Organe involvieren. Oder ein Time-Out vor dem Eingriff, bei dem wir das Vorgehen, die Seite, Allergien et cetera laut auflisten.
Solche Massnahmen hätten dieses Problem vermieden, und ich bin unglaublich froh, dass sie heute Standard sind. Diese Episode zu Beginn meiner Karriere machte mir besonders bewusst, wie wichtig es ist, alles zwei- oder dreimal zu überprüfen.
Der Chirurg allerdings vergab sich niemals.

Übernommen und übersetzt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Siehe auch: «Es gibt keinen Grund, Patienten warten zu lassen: Ein US-Universitätsspital reorganisierte die Notfallstation drastisch – und Personal wie Patienten sind zufrieden. Der Departementsleiter hat aus den Erfahrungen sechs Führungsgrundsätze abgeleitet.»
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