«Wir haben leider erst in einem Monat wieder freie Termine»: Auf solchen Bescheid muss sich gefasst machen, wer eine Physiotherapie-Behandlung braucht. Keine gute Nachricht – auch wenn die Therapie nicht dringend ist. Denn Patienten müssen verschriebene Physiotherapien innerhalb von fünf Wochen beginnen. Sonst müssen sie wieder zum Arzt und eine neue Verordnung verlangen.
Neun Monate lang eine Physiotherapeutin gesucht
«Manchmal haben wir Wartelisten. Oder wir mussten Patienten, die möglichst schnell eine Therapie brauchten, auch schon an andere Therapeutinnen verweisen», schildert die Physiotherapeutin Dina Buchs-Linder die angespannte Situation. Sie ist Geschäftsführerin der Praxisgemeinschaft Bremgarten und war bis vor kurzem Präsidentin des Verbands Physiobern.
Derzeit hat Dina Buchs-Linder genügend Personal. Doch für ihre Praxis in Bremgarten BE hat sie in den letzten drei Jahren schon drei Mal eine Physiotherapeutin gesucht. Einmal dauerte die Suche neun Monate. Einmal erhielt sie während eines halben Jahres keine einzige Bewerbung auf ihre Inserate.
Regelmässig Zwölfstunden-Tage
Die Engpässe versucht sie auszugleichen, indem sie und ihre Mitarbeiterinnen einen halben oder ganzen Tag pro Woche mehr arbeiten. Eine Berufskollegin aus einer anderen Praxis schildert noch krassere Bedingungen: Seit Jahren muss sie unfreiwillig über 20 Patienten pro Tag behandeln und dazu Büroarbeiten und andere Praxistätigkeiten erledigen. Das ergibt Zwölfstunden-Tage. «Wegen der chronischen Arbeitsüberlastung hatte ein Mitarbeiter sogar ein Burnout, war monatelang krank und hat anschliessend gekündet», erzählt sie.
Nicht nur Praxen, sondern auch Spitäler haben Schwierigkeiten, Physiotherapeuten zu finden, bestätigt Gere Luder, Sekretär des Verbands Physiobern und Inhaber der Physio Burgernziel in Bern. Ausserdem hätten Praxen in ländlichen Gebieten noch mehr Mühe, Angestellte zu finden, als solche in Bern.
Stadt Zürich: 20 Physios könnten sofort beginnen
Ein Blick auf die Stellenbörse des Schweizerischen Physiotherapie-Verbands bestätigt den akuten Mangel an Berufsleuten: Allein in der Stadt Zürich könnten 20 Physiotherapeutinnen oder -therapeuten sofort eine Stelle in einem Spital oder in einer Praxis antreten. 40 weitere Stellen sind in den umliegenden Gemeinden frei.
Auch die unangenehmen Folgen für die Patienten bestätigt Gere Luder: «Für eine Knietherapie oder bei Rückenschmerzen findet man noch eher einen Termin als bei neurologischen Problemen, für eine Kiefertherapie oder bei einer frisch operierten Schulter, die ohne Aufenthalt in einer Reha-Klinik bis zu fünf Sitzungen pro Woche nach sich zieht», stellt er fest.
Ältere Personen bleiben zu Hause unbetreut
Engpässe gibt es ausserdem bei Behandlungen zuhause. Betroffen sind meistens ältere Personen, die nach einer Operation wieder nach Hause kommen und dann allein für sich sorgen müssen. «Sie müssen oft bis zu zwei Wochen warten, bis jemand Zeit hat», sagt Gere Luder.
Der Mangel an Physiotherapeuten überrascht ihn nicht. Denn es brauche auch immer mehr Physiotherapeuten. «Die Leute werden immer älter und wollen möglichst lange selbständig zu Hause wohnen», erklärt er. Voraussetzung dafür sei, dass diese Personen selbständig gehen können, dass sie Schultern und Hände benutzen können und dass sie ein gutes Gleichgewicht haben. «Das sind typische Aufgaben für die Physiotherapie.»
Immer mehr Knie-, Hüft- oder Rückenoperationen
Dazu kommt, dass sich immer mehr Menschen Knie, Hüften oder den Rücken operieren lassen. Allein vorletztes Jahr erhielten in der Schweiz 17 000 Menschen eine Knieprothese eingesetzt – «die meisten müssen danach betreut und aufgebaut werden, damit sie ihren Alltag wieder bewältigen können», sagt Gere Luder.
Und er erwähnt einen weiteren Grund für den Mangel: Physiotherapie ist ein typischer Frauenberuf; in der Ausbildung liegt der Frauenanteil bei 80 Prozent. Viele Physiotherapeutinnen arbeiten teilzeitlich oder machen eine Pause wegen der Familie. Deshalb bräuchte es mehr Ausbildungsplätze, findet Gere Luder.
Keine Lösung: Fachkräfte aus Osteuropa oder Asien
Die Nachfrage bestünde: Jährlich bewerben sich nämlich mindestens doppelt so viele Pe rsonen um die rund 600 Ausbildungsplätze in der Schweiz. Fachkräfte zu importieren sei keine Lösung, hat Gere Luder die Erfahrung gemacht. Bewerbungen kämen heute höchstens aus östlichen Ländern oder aus Asien. Wegen Verständigungsproblemen und der unterschiedlichen Ausbildung seien solche Bewerbungen aber kaum aussichtsreich.
Bereits in den 80-er und 90-er Jahren hat die Schweiz viele Physiotherapeutinnen und -therapeuten aus dem Ausland angeworben. Damals kamen die meisten aus Holland, Belgien, Frankreich, später auch aus Deutschland. Die sprachliche Verständigung war damals kein grosses Problem. Viele von ihnen blieben deshalb auch hier und eröffneten eine eigene Praxis. Doch nun kommen auch sie ins Pensionsalter und suchen eine Nachfolge. Finden lässt sie sich derzeit kaum.