Coronavirus: Kriterien für die Katastrophenmedizin

Italiens Intensivmediziner veröffentlichen 15 Richtlinien für die Triage in der «maxi-emergenza». Ein beklemmendes Dokument.

, 12. März 2020 um 07:52
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Die Ausgangslage ist klar: Italiens Spitäler erwarten Lungenpatienten in einem Ausmass, das ihre Ressourcen weit übersteigen wird. Die SIAARTI – die Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin – reagiert nun mit neuen Richtlinien.
Denn angesichts der Coronavirus-Epidemie würden spezielle Kriterien für die Aufnahme und Entlassung von Patienten nötig, auch zur Zuteilung der Ressourcen. Das Gesundheitspersonal sei sich nicht mehr gewohnt und nicht ausgebildet, mit Kriterien der Maxi-Notfall-Triage zu entscheiden. Aber die Lage verlange das.
Die Richtlinien wurden auch erlassen, um das Klinikpersonal in einer oft emotionalen Entscheidungslage zu entlasten und die ausserordentliche Mangelsituation explizit zu formulieren.


Das aktuelle Szenario, so die Arbeitsgruppe der SIAARTI, könne im Wesentlichen dem als «Katastrophenmedizin» betrachtet werden. Nun müsse Intensivmedizin sichergestellt werden für jene Patienten, bei denen die höchste Chance auf therapeutischen Erfolg besteht. Es gehe darum, die «grösste Hoffnung auf Überleben zu privilegieren.» («si tratta dunque di privilegiare la “maggior speranza di vita"»).
Das Prinzip des «first come, first served» rücke damit in den Hintergrund. In Zeiten von Covid-19 sei die klinische Eignung vorrangig, wobei Art und Schwere der Erkrankung, Komorbiditäten, die Beeinträchtigung anderer Organe sowie deren Heilungschancen zu berücksichtigen seien.

«Es kann erforderlich sein, eine Altersgrenze für den Eintritt in die Intensivstation festzulegen.» 

Die neuen Kriterien gelten für alle Intensivpatienten – nicht nur für Menschen mit einer Covid-19-Infektion. Die Belastung der Intensivstationen wirke auf alle Stationen zurück. «Es ist zu berücksichtigen, dass es zu einem vorhersehbaren Anstieg der Mortalität kommt bei klinischen Zuständen, die nicht mit der Epidemie zusammenhängen, sondern mit dem Abbau bei chirurgischen und ambulanten elektiven Behandlungen.»
Ein Punkt hält fest: «Es kann erforderlich sein, eine Altersgrenze für den Eintritt in die Intensivstation festzulegen.»
Dabei gehe es nicht darum, Werte-Entscheidungen zu treffen – sondern man müsse Ressourcen sichern für jene, «die erstens mehr Überlebenschancen haben oder wo zweitens mehr Lebensjahre gerettet werden können.» Dies mit dem Ziel, die Vorteile für die grösste Zahl an Menschen zu maximieren.

«Ceiling of Care»

«Das Vorhandensein von Komorbiditäten und der Funktionsstatus sollten zusätzlich zum Alter sorgfältig bewertet werden», wird also präzisiert. Denkbar sei zum Beispiel, dass eine relativ kurze Behandlung bei gesunden Menschen länger dauert bei älteren, gebrechlichen oder behinderten Menschen – und für die Gesundheitsdienste ressourcenintensiver wird.
Bei Patienten, für die der Zugang zu Intensivbehandlungen als «unangemessen» («non appropriato») erachtet wird, müsse die Entscheidung und Festlegung solch einer Obergrenze («ceiling of care») begründet, dokumentiert und kommuniziert werden. All diese Entscheidungen könnten mit der aussergewöhnlichen Lage begründet werden.

«Jede Anweisung "Nicht intubieren" sollte in der Krankenakte festgehalten werden.»

Das Papier gibt auch Anregungen zur Umsetzung. Ein Beispiel: «Jede Anweisung "Nicht intubieren" sollte in der Krankenakte festgehalten werden, damit dies als Richtschnur dient, wenn eine rasche Verschlechterung während der Schicht von Betreuern eintritt, die nicht an der Planung teilgenommen haben.»
Bei hypoxischen Patienten mit fortschreitender Erkrankung sei gemäss guter klinischer Praxis eine palliative Sedierung vorgesehen, wobei die Patienten bei längerer Agonie aus der Intensivstation entlassen werden sollten.

Dialog, aber effizient

Der Entscheid, einem Patienten die Intensivpflege zu verweigern, müsse im Team kollegial gefällt werden, möglichst im Dialog mit den Betroffenen oder ihren Verwandten. Er sollte aber auch ohne Zögern durchgeführt werden.
Andererseits rät das Papier, die Nöte der Kliniker zu beachten: «Wenn die Arbeitsbedingungen es erlauben, ist es wichtig, am Ende von Notphasen Zeit und Ressourcen aufzubringen für Momente der Nachbesprechung, für das Monitoring möglichen Burnouts und der moralischen Belastung des Personals.»
Schliesslich müsse man sich auch die Rückwirkungen auf die Familien vor Augen führen, deren Angehörige mit Covid-19 ins Spital eingeliefert wurden – insbesondere jene Fälle, «wo ein Patient am Ende einer Periode mit totalem Besuchsverbot stirbt.»
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