Innovativ, spektakulär, beispiellos: Wie sich die Werbesprache in der medizinischen Forschung ausbreitet

Die Verwendung positiver Wörter in den medizinischen Fachpublikationen steigt dramatisch an. Naheliegender Verdacht: Resultate zählen weniger – umso mehr, wie man sie verkauft.

, 23. Dezember 2015 um 08:13
image
  • forschung
  • marketing
  • trends
Wir haben hier ja bereits über die etwas spleenigen Studien berichtet, die im Rahmen der Weihnachtsausgabe des «British Medical Journal» veröffentlicht werden.
Eine dieser Arbeiten ist speziell bemerkenswert: Denn sie zeigt wieder einmal, wie man beim Augenzwinkern plötzlich eine durchaus ernsthafte Entwicklung erkennen kann.
Vier Wissenschaftler der Universitäten von Utrecht und Amsterdam, geleitet von Christiaan H. Vinkers, stellten sich nämlich die Frage, wie positive und negative Wörter in den medizinischen Fachpublikationen benutzt werden. Der Trend war klar, ja geradezu dramatisch: Die Einsatz solcher Adjektive steigerte sich zwischen 1974 und 2014 von 2 Prozent der Beiträge auf 17,5 Prozent – wobei die Begriffe «robust», «neuartig» («novel»), «innovativ» und «beispiellos» («unprecedented») am klarsten zulegen konnten. 

Christiaan H. Vinkers, Joeri K. Tijdink, Willem M. Otte: «Use of positive and negative words in scientific PubMed abstracts between 1974 and 2014: retrospective analysis», in: «British Medical Journal», Dezember 2015.

Vinkers et al. durchforsteten dafür alle in der PubMed-Datenbank erfassten Publikationen des Erhebungszeitraums, wobei sie in einem zweiten Schritt zwischen wichtigen High-Impact-Journalen und anderen Publikationen unterschieden; bei beiden Gruppen waren die Ergebnisse in etwa identisch.
Man kann also sagen, dass die Werbesprache und die Selbstvermarktung der Wissenschaftler in den letzten vier Jahrzehnten einen wahren Siegeszug angetreten haben.
«Offensichtlich beachten die Wissenschaftler zunehmend die helle Seite der Forschungsresultate», folgern die Wissenschaftler – in der Mehrheit Psychiater – aus Utrecht und Amsterdam. Und sie kommentieren trocken: «Ob diese Wahrnehmung die Realität entspricht, sollte allerdings in Frage gestellt werden.»
image
Die relative Häufigkeit von 24 positiven Begriffen in in PubMed erfassten medizinischen Fachbeiträgen, 1970 bis 2014 (Quelle: BMJ)
Übrigens stellten sie auch bei den negativ besetzten Wörtern (wie «disappointing», «ineffective», «insignificant», «pessimistic») einen Zuwachs fest. Allerdings war dieser deutlich weniger klar – von 1,3 Prozent aller erfassten Artikel zwischen 1974 und 1980 stieg die Quote auf 3,2 Prozent im Jahr 2014.
Bemerkenswert ist ein anderer Aspekt: Medizin-Autoren, die in einem nicht-englischsprachigen Institut arbeiten, verwendeten signifikant mehr positive Begriffe. Dies führt natürlich zur Vermutung, dass solche Wissenschaftler sich eher gedrängt fühlen, ihre Ergebnisse mit Pauken und Trompeten zu präsentieren, um Gehör zu finden.
image
Einsatz positiver und negativer Adjektive in medizinischen Fachartikeln, 1974-2014
Insgesamt jedenfalls scheint sich hier eine Tendenz zu manifestieren, die andernorts schon diskutiert und bemängelt wurde: Ein zunehmend eifriger internationaler Wettbewerb um Forschungs-Glanz verleitet offenbar verstärkt dazu, seine Ergebnisse ins schönste Licht zu stellen. – womöglich bis an die Grenze des Tragbaren.

Forschung als «Survival of the fittest»

Die niederländischen Autoren schreiben selber: «Obwohl es möglich ist, dass die Forscher eine zunehmend optimistische Haltung haben und zunehmend enthusiastisch über ihre Resultate sind, erscheint eine andere Erklärung wahrscheinlicher: Die Wissenschaftler dürften annehmen, dass ihre Erkenntnisse übertrieben werden müssen, um publiziert zu werden. … Die Folgen dieser Übertreibungen sind bedenklich, denn Forschung wird so zum survival of the fittest»: Wer seine Resultate am besten verkaufen kann, ist auch am erfolgreichsten.»
Was sie zum Fazit führt: «Es ist Zeit für eine neue akademische Kultur, die Qualität vor Quantität setzt und die Forscher dazu stimuliert, Nuancen und die Objektivität zu würdigen».
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Luzern: Ende des Ärzte- und Pflegemangels in Sicht?

Im vergangenen Jahr wurden 10 Prozent mehr Bewilligungen für Gesundheitsberufe erteilt.

image

Erfolg für Jungunternehmen im Biotech- und Medtech-Bereich

Viele Start-Up-Unternehmen hatten letztes Jahr grosse Mühe, Investoren zu finden. Biotech und Medtech gehörten aber zu den Gewinnern.

image

Die Menschen fühlen sich so gesund wie vor Corona

Die Covid-Turbulenzen konnten der gesundheitlichen Selbstsicherheit von Herrn und Frau Schweizer wenig anhaben: Dies besagen neue Daten.

image

Immer mehr Pillen – und immer mehr Komplementär-Medizin

Der Gebrauch von Schmerzmitteln hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verdoppelt. Der Gebrauch von Physiotherapie ebenfalls. Und so weiter.

image

Erste Transplantation mit«DaVinci-Xi-System» am Kantonsspital St. Gallen

Erstmals wurde am KSSG die Niere eines Lebendspenders mit Hilfe chirurgischer Robotik entnommen.

image

Effizienz durch digitale Prozesse

Schwarzwald-Baar Klinikum meistert Hürden der Anbindung von HYDMedia an das LE-Portal

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.