Wir reden ständig von der Kostenexplosion, aber wir reden nie von einer Gesundheitsexplosion: Diesem interessanten Bias widmen FMH-Präsident Jürg Schlup und FMH-Wissenschaftlerin Nora Wille einen Beitrag in der aktuellen «Ärztezeitung».
Konkret wissen wir ganz genau, dass die Gesamtkosten des Gesundheitswesen bei der Einführung des KVG 1996 bei knapp 40 Milliarden Franken lagen; jetzt, zwei Jahrzehnte später, erreicht die Summe 76,4 Milliarden.
Wir wissen andererseits, dass der medizinische Fortschritt neben der Alterung der Gesellschaft dabei ein wichtiger Faktor war. Schlup und Wille stellen nun die Frage in den Raum, weshalb man in diesem Fall eher von «Kostentreibern» spricht, obwohl beides ja sehr positiv ist: Fortschritt und Alterung sind quasi «Nutzenindikatoren».
Nicht nur das Durchschnittsalter steigt seit Jahren stetig, sondern dabei reduzieren sich insbesondere auch die vorzeitigen Todesfälle erheblich (gemessen an der Anzahl von Jahren, die Menschen vor ihrem 75. Geburtstag verstarben).
Dieser Zugewinn an Lebenszeit ist dem medizinischen Fortschritt zu verdanken ist. Wir verdanken ihm Behandlungserfolge – damit aber erhöht sich wiederum die Nachfrage nach medizinischen Leistungen: «Denn im Gegensatz zu einem verstorbenen Patienten besucht der überlebende Patient eine Rehabilitation, nimmt regelmässig Medikamente ein, sucht seinen Arzt auf – und erleidet ein paar Jahre später erneut eine Erkrankung», so der Meinungsbeitrag der FMH-Vertreter. Zusätzlich zu erwähnen sei der volkswirtschaftliche Nutzen, der sich aus den erwähnten Fortschritten ergebe.
Erst wissen, dann urteilen
Kurz: Die gesundheitspolitische Diskussion müsste ergänzt und erweitert werden – durch eine bessere Aufarbeitung und Diskussion des Nutzens, der mit den Kosten stets auch im Zusammenhang steht. «Denn ein Urteil, wieviel Gesundheitsversorgung wir uns für wie viel Geld leisten wollen, setzt voraus, dass uns neben den Kosten auch bewusst ist, was wir dafür erhalten bzw. worauf wir eventuell verzichten müssten – und ob ein solcher Verzicht nicht letztlich teurer käme», schreiben Schlup und Wille.
Deshalb werden in den kommenden Ausgaben der «Schweizerischen Ärztezeitung» Vertreter verschiedener Fachdisziplinen Beispiele für den Nutzenzuwachs in ihren Arbeitsbereichen darlegen. Schiesslich spiegle sich der Nutzen des medizinischen Fortschritts in vielen Disziplinen – von Neonatologie und Geburtshilfe bis hin zu Geriatrie und Palliativmedizin.