«Prämien bringen fast jede zweite Familie ans Limit», titelte Mitte August «20 Minuten» in der gesamten Deutschschweiz und im Tessin und zitierte dabei den Vergleichsdienst Comparis. Viele Leser und Leserinnen dürften schockiert gewesen sein, zumal ihnen die entscheidende Information zu den verwendeten Daten vorenthalten wurde. Diese findet sich nur versteckt auf der Comparis-Seite in einem unscheinbaren
Nachtrag zur Umfrage: «Sie ist nicht repräsentativ.»
Alles andere wäre auch erstaunlich gewesen, zeigen doch die Zahlen
repräsentativer Umfragen ein anderes Bild: Der Bevölkerungsanteil, der die Krankenkassenprämien als Problem bezeichnet, ist 2017 auf den tiefsten Stand der letzten 15 Jahre gesunken. Der Anteil, der Arzt- und Medikamentenkosten als Problem wahrnimmt, hat sich im letzten Jahr sogar nahezu halbiert.
Jürg Schlup
Jürg Schlup ist seit 2012 Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Zuvor war er mehr als 20 Jahre als Hausarzt in einer Doppelpraxis tätig. — Schlup leitete von 1983 bis 1987 die Sektion Bern des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO), von 2001 bis 2010 präsidierte er die Ärztegesellschaft des Kantons Bern. — Er studierte in Bern Medizin und erwarb 1996 einen Executive MBA an der Hochschule St. Gallen.
Zwar empfindet auch aktuell jeder Dritte die Prämien als Problem, was zwingend Lösungen erfordert. Man muss aber auch den Kontext im Auge behalten: Ebenfalls ein Drittel, in anderen Umfragen sogar die
Hälfte der Bevölkerung, bezeichnet die Steuerlast als starke finanzielle Belastung. Dennoch werden Kostendeckel ausschliesslich für – mitunter lebenswichtige – Gesundheitsleistungen diskutiert, aber nicht zum Beispiel für die öffentliche Verwaltung.
«Die Bevölkerung würde vor allem das Budget für die öffentliche Verwaltung senken»
Den Präferenzen der Bevölkerung entspricht dies nicht: Dürfte sie die Staatsausgaben umverteilen, würde zum Beispiel das Budget für die öffentliche Verwaltung um 24 Prozent gesenkt – die Gesundheitsausgaben
würde die Bevölkerung hingegen um 8 Prozent erhöhen.
Letzteres ist konsequent, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Bevölkerung ausnahmslos für alle Bereiche der Gesundheitsversorgung mindestens genauso viel Geld wie bisher aufwenden möchte und auch Rationierungen sehr teurer Behandlungen klar ablehnt, ob durch das Bundesgericht (65 Prozent), das BAG (76 Prozent) oder die Krankenkassen (78 Prozent).
Die Menschen wären kostenbewusst
Die Menschen in der Schweiz legen dennoch keine undifferenzierte Konsumhaltung an den Tag: Die Mehrheit erkennt die Notwendigkeit eines stärkeren Kostenbewusstseins an, wie sich an der wachsenden Zustimmung zur Erhöhung der minimalen und der maximalen Franchise ablesen lässt. Und auch das Problem der Lastenverteilung wird in der Bevölkerung gewürdigt, wie die Mehrheiten für Kinder-Prämienbefreiungen – insbesondere für einkommensschwache Haushalte – und die Entlastung junger Erwachsener zeigen.
Doch nicht nur solche punktuellen Massnahmen könnten Kostenbewusstsein und Eigenverantwortung fördern, die Lastenverteilung verbessern und die Prämienzahler entlasten.
Die drängendste Aufgabe der Gesundheitspolitik wäre, die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen voranzutreiben. Sonst wird die Verlagerung von Behandlungen aus dem – überwiegend kantonal finanzierten – stationären Bereich in die – ausschliesslich prämienfinanzierte – ambulante Versorgung die Versicherten immer stärker belasten. Allein diese Korrektur der heute finanzierungsbedingten Fehlanreize birgt diversen
Berechnungen zufolge ein grosses Sparpotenzial – ohne Rationierung und Qualitätsverlust.
«Drängendste Aufgabe wäre, die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen voranzutreiben»
Würden gute Nachrichten genauso nachgefragt wie Skandalisierungen, hätte die «20 Minuten»- Schlagzeile auch lauten können «Prämienentwicklung bereitet immer weniger Menschen Sorge»: Denn statt noch 63 Prozent wie 2003
zählten im Jahr 2016 nur noch 21 Prozent die Krankenkassenprämien zu den fünf wichtigsten Sorgen der Schweiz.
«Vier von fünf Personen beurteilen die Entwicklung des Gesundheitswesens als positiv» wäre ebenfalls eine korrekte Information gewesen – interessant auch, dass sich dieser Anteil seit 2003 von 47 Prozent auf 81 Prozent erhöht hat. Zweifelsohne müssen wir Probleme lösen und Verbesserungen vorantreiben – Panikmache ist jedoch kein guter Ratgeber.