Verleiht die Corona-Krise der Pflegeinitiative wirklich den grossen Schub, den nun alle erwarten? Mitnichten, sagt ein Experte der Ideen-Gemeinschaft Avenir Suisse.
Sogar zuviel Personal in der Corona-Krise
Jérôme Cosandey, seit knapp zwei Jahren Westschweizer Direktor von Avenir Suisse und als Forschungsleiter vorwiegend mit Gesundheitspolitik beschäftigt, äussert sich in der «Berner Zeitung» provokant: Er fürchtet sich davor, dass aus der Politik nun der Ruf nach mehr Personal komme. Denn er ist überzeugt: «Wir hatten in der Krise genug, ja zuviel Personal.»
Für gegen 20 000 Angestellte im Gesundheitswesen sei nämlich sogar Kurzarbeit beantragt worden, hält er fest. Das Problem sei jedoch gewesen, dass das Personal nicht überall genug flexibel eingesetzt worden sei.
«Betriebsfeuerwehr» für Krisen
Als lobende Beispiele erwähnt er den Kantone Zürich: Dort wurden Angestellte mit Kurzarbeit dorthin versetzt, wo sie gebraucht wurden. Auch Genf habe vorbildlich gehandelt. Dort wurde die Behandlung von Corona-Patienten auf wenige Spitäler konzentriert.
Cosandey warnt davor, die Kapazitäten auf den Schweizer Intensivstationen auf sämtliche Pandemien in den nächsten 50 Jahren auszurichten. Besser wäre, es das Pflegepersonal so auszubilden, dass es im Notfall auf der Intensivstation mitarbeiten könnte - wie eine Betriebsfeuerwehr in Industriebetrieben.
Weniger Zeitmangel mit besserer Organisation?
Und der chronische Zeitmangel des Pflegepersonal, die Erschöpfung und die überdurchschnittlich hohe Kündigungsrate? Für Cosandey ist nicht unbedingt der Personalmangel der Grund für die hohe Unzufriedenheit beim Pflegepersonal. «Manchmal liegt es auch an der Organisation und der Bürokratie», sagt er im Interview.
Er betont auch, dass die Pflegefachkräfte bei der Stellensuche in bester Position seien. Sie fänden jederzeit eine neuen Arbeitsort. Deshalb sei es an den Personalverantwortlichen der Spitäler, attraktive Arbeitszeitmodelle anzubieten.
Cosandey fordert höhere Arbeitspensen
Generell warnt Jérôme Cosandey davor, den Bestand des Pflegepersonals massiv aufzustocken. Er bezweifelt, dass es künftig so viel mehr Pflegepersonal brauchen werde. Nicht berücksichtigt werde, dass effizienter gearbeitet werden könne, dass Spitex-Leistungen ausgebaut werde und dass die Technik Fortschritte mache.
Ein Dorn im Auge ist ihm auch, dass etwa bei der Spitex der durchschnittliche Beschäftigungsgrad bloss bei 43 Prozent liege. Das entspreche zwar dem Wunsch der Angestellten, koste aber viel, weil für fünf Vollzeitstellen zwölf Personen ausgebildet und rekrutiert werden müssen.
Bevölkerung will keine höheren Pflegekosten
Er legt den Punkt ausserdem auf einen weiteren wunden Punkt: Die Bevölkerung klage bereits jetzt, wie hoch Pflegekosten seien - in Pflegeheimen etwa betragen sie 75 Prozent. Gäbe es mehr Personal, würde die Pflege noch teurer.