«Das hätte Mutter nicht gewollt»: Solche Sätze bekommen Ärztinnen und Ärzte gelegentlich von Angehörigen zu hören, wenn sie jemanden erfolglos reanimiert haben. Eigentlich sollten Patientenverfügungen solche nachträglichen Vorwürfe verhindern. Seit 2013 sind die Verfügungen in der Schweiz rechtsverbindlich.
Doch sie haben ihre Tücken: In Deutschland funktionieren Patientenverfügungen in Pflegeheimen und auf Intensivstationen nur im Einzelfall, kritisiert der Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Essen, Jürgen in der Schmitten, im Gesundheitsportal
«Medscape».
Gemäss Hausarzt in der Schmitten gibt es dafür vor allem vier Gründe:
- Ob jemand eine Patientenverfügung hat oder nicht, ist häufig eine Frage des Zufalls. In der Schweiz empfehlen die Pro Senectute und Alterseinrichtungen zwar, eine Verfügung zu erstellen. Trotzdem sind sie keine Selbstverständlichkeit.
- Patientenverfügungen sind oft nicht zur Hand, wenn sie gebraucht werden. Niemand weiss, wo sich die Verfügung befindet. «Auf Intensivstationen ist es regelmässig so, dass die Angehörigen erst nach Tagen sagen, da gibt es eine Patientenverfügung. Zu dem Zeitpunkt ist der Patient aber schon ein paar Tage intubiert und beatmet», stellt in der Schmitten fest.
- Patientenverfügungen seien oft nicht aussagekräftig für viele wichtige, klinisch relevante Situationen.
- In der Schmitten zweifelt zudem daran, dass sich Ärzte darauf verlassen können, dass die Patienten bei der Verfügung alles verstanden und genau so gemeint haben, wie es dokumentiert ist. Es fehle meistens eine ausführliche Beratung.
Zu wenig handlungsleitend
«Patientenverfügungen sind – in der heute verbreiteten Form, wie sie etwa von Ärztekammern oder Anwälten angeboten werden – von ihrer Formulierung her gar nicht darauf ausgerichtet, in kritischen Situationen wirklich handlungsleitend zu sein», so ein Fazit von in der Schmitten.
In Deutschland kommt dazu, dass die Verfügungen oft mit Sterbehilfe verbunden werden, auch wenn es keinen Zusammenhang gibt.
Nur für aussichtslose Fälle
Das hat jedoch dazu geführt, dass deutsche Patientenverfügungen häufig nur anwendbar sind, wenn der Betroffene ohnehin in naher Zeit sterben muss oder schwerstens eingeschränkt ist. «Die Formulierungen sind so gewählt, dass sie die Anwendbarkeit der Verfügung auf prognostisch aussichtslose und extreme Situationen beschränken – also unumkehrbar und absehbar auf den Tod zulaufende Zustände sowie ausdrücklich das Wachkoma und die Schluckstörung bei Demenz.»
Das Problem ist: Solche Patientenverfügungen nützen nichts, wenn beispielsweise ein 90 Jahre alter, schwer an Demenz leidender Patient an einer Covid-Lungenentzündung erkrankt und beatmet werden müsste oder einen schweren Schlaganfall erleidet.
Beatmung ist of nicht völlig aussichtslos
Die in den üblichen Verfügungen vorausgesetzte «Aussichtslosigkeit» der gesundheitlichen Krise ist in einem solchen Fall nicht gegeben. «Eine Beatmung dieses Patienten wäre eine massive Belastung, verbunden mit einer weiteren Verschlechterung des Allgemeinzustands und einem hohen Sterberisiko – aber die Behandlung wäre unter diesen Umständen nicht vollständig aussichtslos.»
Wenn dieser Patient also unter solchen Umständen nicht mehr lebenserhaltend behandelt werden möchte, dann deckt das die herkömmliche Patientenverfügung nicht ab. Also werden lebenserhaltende Massnahmen wie Reanimation oder Beatmung häufig begonnen, ohne dass der diesbezügliche Wille des Patienten bekannt ist, weil er nicht sorgfältig erfragt wurde.
Beratung auf Kosten der Krankenkasse
Für Deutschland fordert in der Schmitten, dass alle Patienten auf Kosten der Krankenkassen eine eingehende Beratung zu den Erwartungen an künftige Behandlungen erhalten und diese Erwartungen dann eindeutig in einer Verfügung aufgezeichnet werden.
Er findet: «Eine präzise korrespondierende Dokumentation auf möglichst einheitlichen Formularen ist wichtig, so dass der Notarzt, der Rettungsdienstmitarbeiter, die Pflegekraft oder das Klinikpersonal auch Monate später sehen: Ja, das ist schlüssig festgelegt und offenbar das Ergebnis eines sorgfältigen Prozesses: Der Patient hat unterschrieben, der Bevollmächtigte hat unterschrieben – zum Beispiel der Sohn – der Hausarzt hat sich das angeschaut und es gab einen Gesprächsbegleiter.»
Ärzte müssen sich an Verfügung halten
In der Schweiz haben Patientenverfügungen rechtlich und ethisch eine hohe Verbindlichkeit. Diese ist seit zehn Jahren sogar im Erwachsenenschutzrecht geregelt.
Es hält fest: «Die Ärztin oder der Arzt entspricht der Patientenverfügung, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten entspricht».
Kein einheitliches Formular
Doch auch in der Schweiz fehlt es oft an der Beratung, die für eine korrekte Verfügung nötig wäre. Auch gibt es kein einheitliches Formular. Zahlreiche Institutionen bieten unterschiedliche Vorlagen mit unterschiedlichen Schwerpunkten für Patientenverfügungen an.