Gesundheitspolitik für mündige Menschen

Für Robert Nef sollte eine Krankenversicherungsreform nicht in einer durch eine Pandemie aufgeladen Atmosphäre an die Hand genommen werden. Der Publizist und frühere Präsident der Stiftung «Ostschweizer Kinderspital» zeigt einen anderen Weg auf.

, 16. Oktober 2020 um 06:00
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Gesundheit ist für alle Menschen eines der höchsten Güter, von denen alle wissen, dass die Risiken des Verlustes nicht gleichmässig auf alle Menschen und innerhalb eines Menschenlebens und auch nicht gleichmässig auf alle Lebensabschnitte verteilt sind. Darum hat sich in vielen Ländern schon früh die liberale Idee einer privaten Versicherung dieser Risiken verbreitet, und parallel dazu die sozialdemokratische Idee, dass die politische Gemeinschaft dazu durch zwangsweise Umverteilung und Regulierung auch ihren Beitrag leisten müsse.
Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass es für Gesundheitsrisiken in Zeiten einer Pandemie sehr plötzlich zu massiven Verschiebungen der Normalrisiken kommen kann. Es wäre sicher unklug, das gesamte Gesundheitswesen unter dem Eindruck der Corona-Krise in Richtung «mehr Staat» umzukrempeln. Die Bekämpfung einer Pandemie geht weit über den Bereich der Gesundheitspolitik hinaus. Sie ist ihrer Natur nach eine existenzielle, aber temporär limitierten besondere Staatsaufgabe: Es geht um den Schutz von Leib und Leben in der Gesamtbevölkerung unter ausserordentlichen, zeitlich begrenzten Bedrohungen, und sie ist damit eine Frage des «Polizeirechts» im weitesten und ursprünglichen Sinn.
Der Staat hat nach der Schweizer Bundesverfassung drei zentrale Aufgaben: Wahrung der Sicherheit und Unabhängigkeit gegen aussen, Schutz der Freiheiten und Rechte des Volkes und Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt. Aus liberaler Sicht kann das dritte Ziel am besten und nachhaltigsten erfüllt werden, wenn man die zwei anderen Ziele konsequent im Auge behält.
Die Definition jener «Not» die kein Gebot kennt bzw. einen geregelten qualifizierten Notstand auslöst, ist eine der heikelsten Fragen im Grenzbereich von Recht, Politik und Moral. Bei einer Pandemiebekämpfung als Notmassnahme ist primär der Rechtsstaat gefordert. Es geht um die Fragen nach dem Verhältnis von Regel und Ausnahme, nach der zeitlichen und prinzipiellen Begrenzung von Ausnahmezuständen, nach der Geeignetheit und Verhältnismässigkeit der angeordneten Massnahmen und nach den dadurch geschuldeten Entschädigungen bei Betroffenen, die durch die Massnahmen einen Sondernachteil erleiden – unabhängig von ihrer materiellen Bedürftigkeit. Von grosser Bedeutung ist auch die Strategie der Lockerung abgestimmt auf die dadurch verursachten Risiken. Das schwierigste an einem Notstand ist die Rückkehr zur Normalität, bei der sich die politische Führung «generös gewährend» profilieren kann.
Ich bin kein Pandemieexperte, meine aber auch, dass nicht alle eingesetzten Experten tatsächlich für alle Aspekte der komplexen Herausforderungen zuständig sind. Am heikelsten ist wohl der rationale Umgang mit einer Fülle von statistischem Material inmitten eines manipulierbaren Daten- und Zahlensalats. Zudem werden kritische Stimmen aus Fachkreisen auch in der Schweiz m.E. zu wenig berücksichtigt. Ich masse mir nicht an, diesbezüglich eine Patentlösung für optimale Pandemiepolitik aller Länder in der Tasche zu haben. Ich begrüsse die Erforschung unterschiedlicher Pandemiemassnahmen durch Ländervergleiche und halte als Non-Zentralist unterschiedliche Regelungen für eine Chance und nicht für eine Gefahr. Für mich ist es wichtig, dass wenigstens die richtigen Statistiken ausgewertet werden und bei Vergleichen die richtigen Fragen gestellt und die entscheidenden Kriterien angewendet werden. Immer wieder werden Äpfel mit Birnen verglichen und dass unterschiedliche Alterspyramiden auch zu unterschiedlichen Todeszahlen führen, ist nicht erstaunlich.
Es besteht die Gefahr, dass jedes Notstandsregimen zu einer unreflektiert hingenommen zusätzlichen Verstaatlichung aller Lebensbereiche führt. Die Grundfrage «Darf man das?» oder «Darf man das wieder?» führt zu einer Umkehr der Freiheitsvermutung. Es ist nicht mehr alles erlaubt, das nicht verboten ist, sondern es es gilt alles als verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt bzw. wieder erlaubt wird. Regieren wird zur gestaffelten und gnädig gewährten Lockerung von Verboten, die viele Betroffenen dankbar entgegennehmen.
Ich komme damit zu meiner ersten These:
Das Problem «Notstand und Polizeiauftrag des Staates» hat nur wenig mit dem in Normalzeiten etablierten Gesundheits- und Sozialwesen zu tun, und es sollte auch auf diesem Hintergrund politisch gelöst werden. Dauerhafte Reformen sollten nicht unter dem Druck einer Krise angepackt werden.
Die Coronakrise hat weltweit unterschiedliche aber doch bemerkenswerte wirtschaftliche Einbussen bewirkt. Dies führt zur politischen Versuchung, diesen Schwierigkeiten mit einer Anpassung und Ausdehnung der intervenierenden Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu begegnen. Damit werden ausgerechnet die heilsamen, die allgemeine Robustheit stärkenden Elemente neutralisiert und die Pandemiebekämpfung wird zu einem Einfallstor einer zusätzlichen Verstaatlichung des gesamten Lebens.
Aus freiheitlicher Sicht ist eine Analyse anzustreben, die den Besonderheiten des Staatsnotstandes, der Gesundheitsversorgung und der Sozialpolitik mit je adäquaten gezielten Mitteln gerecht zu werden versucht. Dabei gilt die Devise: Mehr Eigenverantwortung, weniger Staat.
Meine zweite These lautet:
Eine freiheitliche Gesundheitspolitik soll nicht gleichzeitig auch noch sozialpolitische Ziele verfolgen wollen.
Gesundheit und Krankheit einerseits und Reichtum und Bedürftigkeit sind ihrem Wesen nach unterschiedliche Problemkreise.
Im Gesundheitswesen wird an eine Solidarität der Gesunden mit den Kranken appelliert. Diesem Gedanken wird durch ein privates Netzwerk von Krankenversicherungen Rechnung getragen, die auf einer unter den Mitgliedern frei gewählte Solidarität beruhen. In der Schweiz ist dieses Verhältnis durch ein Versicherungsobligatorium und einen Pflichtleistungskatalog stark reguliert. Durch den Solidaritätsgedanken ist es eng mit einer Sozialpolitik verknüpft, in der die Vermögenden von Staates wegen zu einer Solidarität mit den Bedürftigen verpflichtet werden. Selbstbestimmte Solidarität hat mit Zwangssolidarität allerdings nur den Begriff gemeinsam. Zwischen den beiden Konzepten klaffen Welten, weil freiwillige Solidarität durch Zwang nicht vermehrt, sondern vermindert wird. Ein Gesundheitswesen das zu eng mit einem Versicherungszwang und sozialer Umverteilung verknüpft wird, riskiert, dass die Umverteilung zunehmend auch an Begüterte geht und damit ihr Ziel verfehlt.
Das ursprüngliche Motiv der Verknüpfung von Gesundheitswesen und Sozialwesen ist nachvollziehbar. Niemand soll aus finanziellen Gründen von der ärztlichen Grundversorgung ausgeschlossen werden. Dies hat historisch zunächst dazu geführt, dass Spitäler als religiöse und karitative Institutionen ohne wirtschaftliche Motive gegründet und betrieben wurden. Sie sind als soziale Institutionen zugunsten der ärmeren Bevölkerung entstanden und haben sich erst später zu medizinischen Behandlungszentren für alle entwickelt.
Schrittweise hat sich eine an die Armenfürsorge anknüpfende Sozialpolitik zu einer Politik gewandelt, in der es als Zumutung an die Bedürftigen empfunden wird, einen Bedürftigkeitsnachweis zu erbringen. Wer staatliche Unterstützung beansprucht, sollte aber den Nachweis erbringen, dass er die dafür genannten Bedingungen erfüllt. Entgegen dieser Grundregel hat man in den meisten Ländern Europas, auch in der Schweiz, ein zentralstaatliches, nicht personenbezogenes Umverteilungssystem etabliert, das von allen an alle umverteilt, und den Ausgleich über eine progressive Besteuerung anstrebt.
Meine dritte These lautet:
Die umverteilende Sozialpolitik sollte nicht mit der Giesskanne von allen an alle, sondern nur an nachweisbar Bedürftige umverteilen, sonst wird sie finanziell und auch von der Legitimierung her zum «Fass ohne Boden». 
Das schweizerische Gesundheitswesen basiert auf einer komplexen Mischung von Verantwortlichkeiten, an denen die pflichtversicherten Individuen, die Krankenkassen und Krankenversicherungen sowie die Gemeinden, Kantone und der Bund teilhaben.
Die im Jahre 1996 in Kraft getretene Revision des Eidgenössischen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) brachte mehr Wettbewerb und eine erhöhte wirtschaftliche Selbstverantwortung der Krankenkassen mit sich, löste aber die enge Verbindung von Gesundheitspolitik und Sozialpolitik nicht auf. Das Thema Krankenversicherungsreform bleibt auch in der Schweiz auf der politischen Traktandenliste. Eine Reform sollte allerdings nicht in einer durch eine Pandemie aufgeladen Atmosphäre an die Hand genommen werden und auf eine Stärkung der Selbstverantwortung und der Selbstbeteiligung ausgerichtet sein.
Meine vierte, abschliessende These lautet:
Die Krankenversicherung soll in erster Linie die Mündigkeit des Menschen respektieren, die Eigenverantwortung stärken und Spielraum für freie Wahlentscheide lassen.
Sie muss auch wirksame Mechanismen zur Kostendämpfung im kollektiv finanzierten Anteil enthalten. Im individuell finanzierten Bereich sollen alle mündigen Menschen in ihre Gesundheitsversorgung und –vorsorge nach eigenen Präferenzen und nach eigener Risikobewertung investieren.
Da Gesundheit ein hohes, wertvolles Gut ist, sind hohe Gesundheitsausgaben, wenn sie auf privatautonomen Entscheiden beruhen, eine positiv zu bewertende Begleiterscheinung wachsenden Wohlstandes. Kostendämpfung als solche ist kein gesundheitspolitisches Ziel. Gesundheitskosten dürfen und sollen auch im privaten Haushalt ihr Gewicht haben. Solange das Preis/Leistungsverhältnis stimmt, ist gegen steigende Kosten für steigende Qualität nichts einzuwenden. Es ist kein gutes Zeichen, wenn in privaten Haushalten für Mobilität, Freizeitvergnügen und gesundheitsschädigende Genussmittel mehr ausgegeben wird als für die Gesundheit, die man sich als angeblich «öffentliches Gut» gern von Dritten finanzieren lässt. Selbst steigende öffentliche Investitionen in die Gesundheit sind nicht abzulehnen, wenn sie auf einer rationalen kollektiven Entscheidung und auf einem transparenten, nachhaltig praktizierbaren Finanzierungsmodell beruhen. Eine zukunftstaugliche Gesundheitspolitik soll aber grundsätzlich von der Sozialpolitik getrennt werden und sich auf das Ziel der Qualitätssteigerung und nicht der Mengenausweitung konzentrieren. Wieviel Umverteilung damit verbunden werden soll, ist eine sozialpolitische und keine gesundheitspolitische Entscheidung. 
Der Staat soll lediglich die Rahmenbedingungen setzen, innerhalb denen neue Strukturen non-zentral und in einem Wettbewerb der Experimente unter Privaten und kleineren politischen Einheiten gefunden werden können. Eine für alle und für alle Zeiten ideale Gesundheitspolitik gibt es nicht, aber eine in ausserordentlichen Lagen konzipierte Politik taugt nicht als Lösung für den Normalfall.
Über den Autor:
Robert Nef ist Publizist, Autor und Jurist. Er ist unter anderem Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts Zürich, das er in der Vergangenheit leitete und präsidierte. Nef gehört zu den engagiertesten und bekanntesten liberalen Vordenkern im deutschsprachigen Raum. Der Publizist war während 20 Jahren (rein ehrenamtlich) Präsident der Stiftung «Ostschweizer Kinderspital». Dieser Beitrag geht auf das Forum Freiheit am 14. Oktober 2020 der Hayek Gesellschaft in Berlin zurück. Kontakt: robertnef@bluewin.ch
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