«Das Leben wird nicht um jeden Preis verlängert»

Die FMH-Präsidentin wehrt sich gegen den Eindruck, dass am Lebensende viele verzichtbare Behandlungen durchgeführt werden.

Gastbeitrag von Yvonne Gilli, 8. November 2023 um 05:10
letzte Aktualisierung: 9. März 2024 um 07:10
image
Yvonne Gilli: «Das Nationalforschungsprogramm zeigt, dass nur sehr wenige Patienten am Lebensende extrem teure Behandlungen im Spital in Anspruch nehmen.» | Bild: PD / Regina Kühne
Ich schätze es sehr, wenn mehr über den Nutzen der Medizin gesprochen wird – die Perspektive darauf ist aber insbesondere bei sterbenskranken Menschen oft sehr einseitig.
Im Artikel «Macht man im Alter zu viel des Guten» vom 17. Oktober 2023 wird der Palliativmediziner Andreas Weber mit den Worten zitiert: «Wir machen ganz viel in den Spitälern, was dem Patienten wenig bringt oder sogar schadet.»

«Im Vorfeld ist oft nicht eindeutig zu sagen, ob eine Behandlung dem Patienten wenig bringt oder sogar schadet».

Diese Probleme gibt es natürlich. Sie entstehen aber aus einer sehr komplexen Situation heraus und lassen sich nicht verallgemeinern: Zum einen ist im Vorfeld oft nicht eindeutig zu sagen, ob eine Behandlung dem Patienten wenig bringt oder sogar schadet.
Wie Medinside im Artikel auch erwähnt, besteht bei Patienten vielfach auch eine grosse Ambivalenz: Sie wollen Behandlungen noch probiert haben und sind nicht unbedingt bereit, die Hoffnung auf Lebensverlängerung aufzugeben.

«Der revidierte Tarif Tardoc sieht auch Palliative Care im ambulanten Bereich vor, wird aber seit Jahren durch den Bundesrat blockiert.»

In dieser Situation ist es nicht einfach, zur Entscheidung für einen Behandlungsverzicht zu kommen. Es braucht dann vor allem von dem, was im Gesundheitswesen am wenigsten vorhanden ist: Zeit. Hier erleben wir seit Jahren einen massiv steigenden Druck, zum einen durch den letztlich politisch provozierten Fachkräftemangel, zum anderen durch den Druck im Tarifbereich wie zum Beispiel durch Limitationen von Gesprächszeiten. So sieht der revidierte Tarif Tardoc endlich auch Palliative Care im ambulanten Bereich vor, wird aber seit Jahren durch den Bundesrat blockiert.
Wenn Andreas Weber sagt, es würden «Behandlungen angeboten, ohne abzuklären, wo der Patient steht, ob er überhaupt an lebensverlängernden Massnahmen interessiert sei», kann dies keinesfalls verallgemeinernd als Analyse für unser Gesundheitswesen gelten. Dies hat zuletzt ein Nationalforschungsprogramm zum Thema explizit festgehalten.

«In 80 Prozent aller absehbaren Todesfälle nehmen Ärzte und Ärztinnen eine Lebenszeitverkürzung mindestens in Kauf».

Ein Synthesebericht des Nationalforschungsprogramms zeigt, dass heutzutage die allermeisten Todesfälle absehbar sind und in vier von fünf, also 80 Prozent aller absehbaren Todesfälle, Ärzte und Ärztinnen Entscheidungen treffen, die eine Lebenszeitverkürzung mindestens in Kauf nehmen.
Zudem ist der Anteil von Patienten mit Behandlungsabbruch beziehungsweise Behandlungsverzicht innerhalb von zwölf Jahren von 41 auf 49 Prozent gestiegen. Das Leben wird also nicht um jeden Preis verlängert, das Gegenteil ist die Regel – und dies immer mehr.
Ausserdem zeigte das Nationalforschungsprogramm, dass nur sehr wenige Patienten am Lebensende extrem teure Behandlungen im Spital in Anspruch nehmen.

«Es vermittelt einen falschen Eindruck, wenn in der öffentlichen Diskussion weiter das Bild vieler teurer und verzichtbarer Behandlungen am Lebensende gepflegt wird.»

Höhere Kosten fallen vor allem bei jüngeren Patienten an. Für diese zeigte eine Studie vom Gesundheitsökonomen Konstantin Beck, dass nur 4 Prozent unter diesen jungen Patienten am Lebensende sehr hohe Kosten verursachen. Bei den Senioren fallen nur 2 Prozent der Sterbenden in diese Hochkostenkategorie. Es vermittelt darum einen falschen Eindruck, wenn in der öffentlichen Diskussion weiter das Bild vieler teurer und verzichtbarer Behandlungen am Lebensende gepflegt wird.
Wir setzen uns sehr dafür ein, dass Behandlungen am Lebensende den Nutzen für den Patienten fokussieren. Unter anderem haben wir dafür erst im letzten Jahr die Patientenverfügung revidiert, die wir auf unserer unserer Webseite anbieten.

«Würde man endlich die palliative ambulante Versorgung stärken, könnte man sowohl Kosten sparen als auch Lebensqualität am Lebensende erhöhen.»

Wichtig sowohl für die Versorgung Sterbenskranker als auch für die Kostenentwicklung wäre ausserdem eine Stärkung des ambulanten Bereichs. Die meisten Menschen wollen daheim sterben, sterben dann aber doch sehr häufig im Spital. Das ist deutlich teurer und entspricht auch nicht dem Willen der Patienten.
Würde man endlich die palliative ambulante Versorgung stärken, könnte man sowohl Kosten sparen als auch Lebensqualität am Lebensende erhöhen. Dies haben wir im Tardoc abgebildet. Die Genehmigung des Tardoc und der Ausbau von Palliative Care mit Hilfe ausreichender Fachpersonen wäre ein wichtiger Schritt.
Yvonne Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Präsidentin des Ärztedachverbands FMH.

  • Gesundheitskosten
  • palliativmedizin
  • FMH
  • Gastbeitrag
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image
Gastbeitrag von Alessia Schrepfer

Wartet nicht einfach, bis die Politik tätig wird

Es braucht mehr unternehmerisches Denken im Gesundheitswesen – und erst recht im Pflegeberuf.

image

In der Schweiz sind 1100 Ärzte mehr tätig

Die Arztzahlen in der Schweiz haben ein neues Rekord-Niveau erreicht: Es gibt nun 41'100 Berufstätige.

image

Palliative Care: Bitte bessere Infos über Kosten, Risiken, Nebenwirkungen

Die Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin hat eine neue «Top-Liste» mit fünf Empfehlungen veröffentlicht.

image

Viktor 2023: Eine Würdigung der Palliativmedizin

Sophie Pautex gewinnt den «Viktor» für die medizinische Meisterleistung des Jahres. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sie Palliativärztin ist.

image

29 von 30 Apotheken wollten teurere Medikamente verkaufen

Ein Test des «K-Tipps» gibt ein wenig schmeichelhaftes Bild ab: Nur eine Apotheke empfahl wunschgemäss auf Anhieb das billigste Medikament.

image
Gastbeitrag von Peter Baumgartner

Ambulante Psychiatrie: Ohne neue Berufsprofile und KI wird’s kaum gehen

Der Fachkräftemangel in der Psychiatrie verlangt einen massiven Umbau der Versorgung. Aber wie? Ein realistisches Zukunftsszenario.