«Vor lauter Corona gehen viele Zoonosen vergessen»

Seit Ende des 20. Jahrhunderts springen immer mehr Krankheitserreger von Tieren auf den Menschen über. Jakob Zinsstag erforscht diese sogenannten Zoonosen. Ein Interview.

, 8. Dezember 2022 um 06:46
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Jakob Zinsstag leitet seit 1998 eine Forschungsgruppe am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) und ist seit 2010 Professor für Epidemiologie an der Universität Basel. | Universität Basel, Oliver Baumann
Herr Zinsstag, reden wir zuerst über Affenpocken, die Infektionskrankheit, die sich langsam, aber stetig weltweit verbreitet. Über den Namen wird viel diskutiert. Warum?
Die Bezeichnung ist ein Missverständnis. Man hat zwar dieses Virus 1958 zuerst in Affen gefunden, später aber festgestellt, dass es ursprünglich aus verschiedensten Nagetieren und anderen Wildtieren in Afrika stammte. Affen können sich zwar infizieren, aber sie sind nicht Reservoir-Wirt des Virus, das heisst, sie geben es nicht an Menschen weiter.
Inwiefern ist diese neue Virusinfektion typisch für unsere Zeit?
Mich überrascht ihr Aufkommen überhaupt nicht. Schon 2005 bei der Vogelgrippe haben wir gesagt, man müsse unbedingt die Biosicherheit zwischen Mensch und Tier verbessern, sei es auf den Wildtiermärkten oder an den Schnittstellen zwischen Nutz- und Heimtieren. Die Warnung blieb weitgehend ungehört.

«Schon 2005 bei der Vogelgrippe haben wir gesagt, man müsse unbedingt die Biosicherheit zwischen Mensch und Tier verbessern. Die Warnung blieb weitgehend ungehört.»

Dass Krankheitserreger von Tieren auf Menschen überspringen und dieser Mechanismus pandemische Auswirkungen haben kann, erleben wir seit zweieinhalb Jahren mit Sars-CoV-2, das mit allergrösster Wahrscheinlichkeit aus Fledermäusen stammt.
Weiss man, seit wann Krankheitserreger von Tieren auf den Menschen überspringen?
Zoonosen begleiten den Menschen in seiner ganzen Evolution, zunächst als Jäger und Sammler und später als Ackerbauer. Eine der bekanntesten Zoonosen ist die Tollwut: Schon die alten Ägypter nahmen wahr, dass dabei Hunde eine Rolle spielten. Andere Zoonosen wie die Rindertuberkulose oder die Brucellose wurden erst im 19. Jahrhundert entdeckt, in der Zeit von Robert Koch und Louis Pasteur.
Für etliche Epidemien werden Fledermäuse verantwortlich gemacht: Etwa das menschliche Mumps-Virus und sehr wahrscheinlich auch Sars-CoV-2. Die Tiere sind Träger, aber erkranken selber nicht. Warum ist das so?
Fledermäuse sind die einzigen Säugetiere, die fliegen können. Man nimmt an, dass sie für diese Fähigkeit viel Ballast abwerfen mussten und dass sie deswegen nur ein rudimentäres Entzündungssystem haben. Bei einer Infektion werden sie also nicht klinisch krank. Und deswegen, so die These, können Fledermäuse ganz viele Viren in sich tragen, ohne dadurch beeinträchtigt zu sein.
Welches sind die Zoonosen mit den höchsten Fallzahlen, mal abgesehen von Affenpocken und Covid-19?
Es gibt sehr bekannte Zoonosen wie Borreliose, Ebola und Tollwut, aber das sind nicht die häufigsten. Deutlich mehr Infektionen gibt es beispielsweise bei den Bakterienkrankheiten Brucellose und Leptospirose: Die sind zwar weltweit verbreitet, werden aber in vielen «ärmeren» Ländern ignoriert, vermutlich, weil sie langsam und relativ unauffällig verlaufen. Teilweise figurieren sie nicht einmal auf der Liste der vernachlässigten Krankheiten.
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Jakob Zinsstag befasst sich mit Krankheitserregern, die von Tieren auf Menschen übergehen. | Foto: Oliver Baumann, Universität Basel)
Harmlos sind sie trotzdem nicht: Brucellose etwa ist eine allgemeine fieberhafte chronische Krankheit, die fast jedes Organ befällt und im globalen Süden grosse Verluste in der Tierhaltung verursacht, vor allem bei Schafen, Ziegen und Kühen. Sie führt zu Fehlgeburten bei den Tieren. Über ihre Milch gelangen die Bakterien in Menschen, die ebenfalls erkran ken können, zum Beispiel an Malta-Fieber. Mit einer Impfung für Nutztiere und Menschen liesse sich Brucellose einfach bekämpfen. Auch Leptospirose führt zu grossen Problemen bei Nutztieren und Menschen, die mit diesen arbeiten. Selbst die Tollwut ist weiterhin ein Problem. Es gibt Hunderte solcher Krankheiten, die vor lauter Corona-Pandemie vergessen gehen.
Tollwut, Affenpocken und Covid-19 sind Viruserkrankungen. Sind Viren die häufigsten Erreger bei Zoonosen?
Viren spielen eine grosse Rolle, wahrscheinlich die wichtigste. Daneben gibt es sehr viele Bakterien, die zoonotisch sind – etwa die Erreger der Borreliose oder der Pest. Auch Würmer können Krankheiten übertragen. Beispiele sind die Bilharziose, die in Afrika sehr verbreitet ist, und der Hundebandwurm. Sogar Einzeller können zoonotisch sein – etwa der Malaria-Erreger oder Amöben. Die Anzahl der Zoonosen ist seit dem letzten Abschnitt des 20. Jahrhunderts stark angestiegen.
Woran liegt das?
Wichtige Faktoren sind der Verlust der Biodiversität, die massive Abholzung von Wäldern und die landwirtschaftliche Nutzung von ehemals naturbelassenen Ökosystemen. Bei einer grösseren Artenvielfalt ist es für Krankheitserreger schwierig, zwischen verschiedenen Tieren zu wechseln, da es mehr robuste oder gar resistente Arten gibt. Das heisst, nur ein Teil der Tiere ist für einen Erreger empfänglich und gibt ihn weiter.

«Auch der Wildtier- und Wildfleischhandel spielt eine wichtige Rolle.»

Dieser «Verdünnungseffekt» geht bei einer geringeren Artenvielfalt verloren. Und er wird zusätzlich geschwächt durch den vermehrten Kontakt zwischen Menschen und Wildtieren beziehungsweise Nutztieren und Wildtieren. Dazu kommt, dass wir Menschen massiv mehr reisen. Allein in den letzten 15 Jahren hat sich der globale Luftverkehr mehr als vervierfacht. Auch der Wildtier- und Wildfleischhandel spielt eine wichtige Rolle.
Welche Rolle spielen Unterschiede zwischen Ländern bei der Entstehung und Ausbreitung von Zoonosen?
Sie spielen eine grosse Rolle. Damit beschäftigt sich die Infektionsökologie: Sie untersucht die Verbreitung und Zirkulation von Krankheiten nicht nur im Menschen, sondern im ganzen sozialen und ökologischen System. Je nach geografischem Kontext kann das variieren: Brucellose etwa zirkuliert in der Mongolei und in Kirgistan in anderen Tierbeständen als in Mexiko oder Marokko – und gelangt von diesen in die menschliche Bevölkerung.

«So plötzlich Erreger auftauchen, so plötzlich können sie auch wieder verschwinden.»

Auch die Übertragungswege sind verschieden, abhängig von den kulturellen Praktiken. In Mexiko beispielsweise geschieht die Übertragung über Milch und Milchprodukte, in der Mongolei eher direkt von Tier zu Mensch. Ein anderes Beispiel: In der Mongolei sind Murmeltiere Träger des Bakteriums Yersinia pestis, des Pesterregers, durch die Jagd auf diese Tiere kann man sich also anstecken. Auch in Madagaskar ist die Pest ein Problem; hier spielen Ratten und andere Nagetiere eine Rolle, die Übertragung auf den Menschen geschieht über Flöhe. In der Schweiz hingegen haben weder Murmeltiere noch Ratten dieses Bakterium.
Einige Zoonosen scheinen zu verschwinden, etwa das gefürchtete Zika-Virus: Vor ein paar Jahren brachten Schwangere in Mittel- und Südamerika, die sich mit Zika infiziert hatten, schwer hirngeschädigte Kinder zur Welt. Andere Erreger wie Sars-CoV-2 bleiben und mutieren munter weiter. Warum gibt es diese Unterschiede?
Viele Krankheiten sind sogenannt «emergent», das heisst sie entstehen plötzlich aus dem komplexen Zusammenspiel ökologischer Faktoren. Dieses Zusammenspiel verändert sich laufend, das bedeutet: So plötzlich Erreger auftauchen, so plötzlich können sie auch wieder verschwinden. Das scheint bei Zika passiert zu sein. Auch die Ausbrüche von Ebola in Westafrika gingen – nach einigen Interventionen, um die Epidemie einzudämmen – von allein zurück, und niemand weiss, wohin das Virus verschwunden ist.
Warum hat sich Ebola nicht nach Europa ausgebreitet?
Das Ebola-Virus ist enorm tödlich. Wer sich infiziert, wird sehr rasch sehr krank und ist kaum transportfähig. Die Person muss vor Ort behandelt werden, somit bleibt auch das Virus lokal begrenzt. Dazu eine persönliche Anekdote: Als ich 1994 in der Côte d’Ivoire war und dort das Centre Suisse leitete, erlebte ich einen dramatischen Ausnahmefall.

«Einer unserer Studenten hatte sich mit Ebola angesteckt, sein Zustand war sehr kritisch.»

Einer unserer Studenten hatte sich mit Ebola angesteckt, sein Zustand war sehr kritisch. Ohne zu wissen, dass es Ebola war, liessen wir ihn mit der Rettungsflugwacht in die Schweiz fliegen, wo er unter strengen Biosicherheitsvorkehrungen behandelt wurde und überlebte. Unser Vorgehen war im Nachhinein riskant, doch natürlich waren wir froh, dass es gut ausgegangen ist.
Sie sind Pionier für One Health, einen Ansatz, welcher der Entstehung und Verbreitung von Zoonosen vorbeugen könnte. Was versteht man darunter?
Mit One Health schlagen wir vor, die medizinischen Überwachungssysteme von Wildtieren, Umwelt, Nutzieren und Mensch zu koppeln. Dafür gibt es in Europa erfolgreiche Modelle: In der Emilia Romagna in Italien zum Beispiel wird das Westnil-Virus in einem integrierten Ansatz parallel in Mücken, Wildvögeln, Pferden und Menschen überwacht. Sobald das Virus in einer dieser Gruppen auftaucht, werden die anderen Sektoren informiert, auch bei ihrer Population genauer hinzuschauen. So konnte schon vermieden werden, dass kontaminiertes Blut unter Menschen ausgetauscht wurde.
Die Schnittstelle zu Wildtieren zu überwachen ist wahrscheinlich nicht so einfach.
Das stimmt. Man muss zuerst identifizieren, wo man Informationen findet und wer die Ansprechpartner sind. In Äthiopien arbeiten wir im Rahmen der Jigjiga University One Health Initiative, die von der Deza finanziert wird, mit Jägern und Wildhütern zusammen. Das Swiss TPH hat in drei Distrikten lokale Büros, wo Veterinär- und medizinische Mitarbeitende gemeinsam vertreten sind und in Kontakt stehen mit den Gesundheits- und Tiergesundheitsbeauftragten der Dörfer. Und wenn diese einen Abort sehen bei den Tieren, ein krankes Kind oder eine kranke Frau behandeln, dann diskutieren sie einen möglichen zoonotischen Ursprung. Sie entnehmen Blutproben und organisieren wenn nötig eine Überweisung ins Spital. So gelingt es uns niederschwellig, One-Health-Systeme in Afrika zu etablieren. Auch in Guatemala funktioniert das.
Vorausgesetzt, Sie passen sich den lokalen Gegebenheiten an?
Richtig. Würden wir über die Köpfe der Menschen hinweg planen, würden unsere Projekte scheitern. Nur wenn wir die lokale Bevölkerung und ihr nichtakademisches Wissen miteinbeziehen, werden solche Systeme vor Ort akzeptiert. Wir nennen das einen transdisziplinären Prozess.
«Wenn wir es schaffen, einen Welt-Pandemie-Vertrag zu formulieren, dann sehe ich noch optimistischer in die Zukunft.»
Wir versuchen die Menschen vor Ort auch zu überzeugen, länderübergreifend zu arbeiten. Warum sich das lohnt, konnten wir mit einem spieltheoretischen Ansatz aufzeigen: In einem Modell haben wir erst kürzlich ausgerechnet, dass man Tollwut in Afrika in 30 Jahren ausrotten könnte, wenn man die Hunde impfen würde und wenn die Länder ihre Impfkampagnen koordinieren würden. Dabei würden die betroffenen Länder sehr viel Geld sparen.
Ist Ihre Arbeit ein Kampf gegen Windmühlen – sind also die Erreger immer schneller – oder sind Sie optimistisch, dass der Einsatz sich lohnt?
Ich bin auf jeden Fall optimistisch. Nehmen Sie Corona: Noch nie zuvor konnte die Bevölkerung so rasch gegen einen Erreger geimpft werden wie in diesem Fall. Man kann bei den Massnahmen vieles kritisieren, aber die Zusammenarbeit, auch global gesehen, war unter dem Strich gut und über weite Strecken sogar koordiniert. Wenn wir bereit sind, noch besser zwischen den Sektoren zusammenzuarbeiten – Humanmedizin, Tiermedizin, Umwelt und Landwirtschaft –, wenn wir es schaffen, einen Welt-Pandemie-Vertrag zu formulieren, wie er zurzeit in Genf verhandelt wird, dann sehe ich noch optimistischer in die Zukunft. Dazu kommt: Die Molekularbiologie hat ein enormes Potenzial, sowohl diagnostisch als auch therapeutisch, mögliche Erreger zu bekämpfen und ihnen vorzubeugen. Beim Tierschutz und der Biosicherheit gibt es noch viel Luft nach oben. Aber auf neue Zoonosen reagieren, das kann die Welt, das hat sie bewiesen.

Zur Person

Jakob Zinsstag leitet seit 1998 eine Forschungsgruppe am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) und ist seit 2010 Professor für Epidemiologie an der Universität Basel. Er erforscht die Schnittstelle zwischen der Gesundheit von Mensch und Tier mit einem Fokus auf die Kontrolle von Zoonosen in Entwicklungsländern durch das Prinzip «One Health». 1961 in Visp geboren, studierte er Veterinärmedizin und promovierte an der Universität Bern. Seine Forschung führte ihn unter anderem nach Afrika, Asien und Zentralamerika.
Dieses Interview von Angelika Jacobs ist zuerst auf der Webseite der Universität Basel erschienen.
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