In einer grossen Bevölkerungsumfrage des BAG gaben 73 Prozent an, sie möchten gerne zu Hause sterben. Wie siehts in der Realität aus?
Es ist gerade umgekehrt. 70 bis 80 Prozent sterben in Spitälern oder Pflegeheimen. Das ist, weil die Versorgung zu Hause schwierig zu gewährleisten ist. Viele leben alleine zu Hause. Und wenn die sterbenskranke Person eine Partnerin oder einen Partner hat, so reicht das häufig nicht aus für die Betreuung. Sie brauchen Unterstützung von der Spitex, von Palliativdiensten, von Hausärztinnen oder Hausärzten.
Was müsste getan werden, damit mehr Menschen zu Hause sterben könnten?
Mobile Palliativdienste müssten gestärkt werden. Es ist so, dass Hausärzte heute viel weniger Hausbesuche machen als früher. Das Bild vom Hausarzt mit der Ledertasche, der am Abend auf den Hof geht, um einen Hausbesuch zu machen, entspricht nicht der Realität. Deshalb haben wir ein
Informationstool für Grundversorger entwickelt, das Unterstützung liefert. Es bietet Informationen, Checklisten und Handlungsempfehlungen.
Was braucht es konkret, um mobile Palliative Care zu gewährleisten.
Die Spitex ist sehr wichtig für die Pflege und die Verabreichung der Medikamente. Zusätzlich braucht es einen Palliativdienst, der rund um die Uhr präsent ist und bei Bedarf, etwa bei Schmerzen oder Übelkeit, vorbeikommt. Dann braucht es Ärztinnen und Ärzte, die im Hintergrund den Palliativdienst beraten und allenfalls auch vorbeigehen können.
Könnte der Palliativdienst, wie Sie ihn beschreiben, nicht von der Spitex übernommen werden?
Dazu braucht es spezifische Kompetenzen und Fachwissen. Das machen Pflegefachpersonen mit einer Zusatzausbildung. Einzelne Spitexanbieter leisten diesen Dienst.
Korrigieren Sie mich: Eine solche mobile Palliative Care gibts höchstens in Städten, wenn überhaupt.
Nicht nur: Im Kanton Zürich haben wir eine komfortable Situation. Wir haben einen Fachdienst und eine Fachstelle Palliative Care in der Stadt Zürich. Und die gemeinnützige Stiftung Palliaviva hat mehrere Standorte verteilt über den ganzen Kanton. Aber Sie haben Recht: In der Schweiz gibt es Unterschiede und vor allem auch ein Stadt-Land-Gefälle.
Um die mobile Palliative Care zu stärken braucht es Personal. Dieses können wir angesichts des grassierenden Fachkräftemangels nicht aus dem Hut zaubern.
Man muss aber auch sagen, dass die Finanzierung der mobilen Dienste immer noch ungenügend ist. Viele Personen arbeiten mit viel Engagement und ungenügender Vergütung.
Was müsste besser finanziert sein?
Hausbesuche durch Ärzte müssten beispielsweise besser vergütet werden. Aktuell kann man nur die Tätigkeit am Bett abrechnen, also eigentliche Handlungen direkt am Patienten. Viel Zeit braucht man jedoch für das Gespräch, für Aufklärungen. Das wird nicht vergütet. Genau so wenig wie die Zeit für die Hin- und Rückfahrt.
Selbst bei einer Verdoppelung der Honorare hätten wir nicht mehr Landärzte als heute.
Mittelfristig schon. Ich bin schon der Meinung, dass die Attraktivität eines Berufs auch mit der Vergütung zusammenhängt. Tätigkeiten, die sich finanziell nicht lohnen, werden meist nicht angeboten.
Müsste man so weit gehen, dass auch Angehörige und andere freiwillige Helferinnen für die Pflege entschädigt würden?
Das ist sicher eine Lösung. In Deutschland gibt es erste Ansätze in die Richtung. Aber das System ist sehr bürokratisch und oft sind Angehörige ja sonst schon beruflich eingebunden.
Sind es nicht oft die Angehörigen, die den Wunsch äussern, dass die sterbenskranke Person ins Spital kann, weil sie die Situation überfordert?
Die meisten Angehörigen wollen das, was ihre Partnerin oder ihr Partner will. Aber es ist oft so, dass die Versorgung zu Hause schlicht nicht gewährleistet werden kann, und die sterbenskranke Person ins Spital muss.
Die Angehörigen haben es oft extrem streng. Sie stellen die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Sie müssen in der Nacht aufstehen, wann immer die Partnerin oder der Partner auch aufstehen muss. In einer so komplexen Situation braucht es eher drei Personen, die sich abwechseln könnten. Eine Person alleine schafft das in der Regel nicht.
Gemäss der European Association for Palliative Care (EAPC) bräuchte die Schweiz 850 Palliativbetten. Wir haben aber nur 375, die zertifiziert sind.
Ja, und diese 375 Betten sind vor allem in den Städten, aber nicht in den Randregionen. Hier im Raum Zürich haben wir wahrscheinlich genug Palliativbetten. Das Problem sind aber nicht die fehlenden Betten, sondern fehlende Dienste. Viele natürlich sterbende Menschen benötigen keine spezialisierte Palliative Care. Sie brauchen wenig Medizin. Sie brauchen vor allem Pflege und Personen, die sich um sie kümmern. Dabei ist auch wichtig, was man unter Palliative Care versteht. Es gibt darüber falsche Vorstellungen.
Können Sie einen typischen Palliativpatienten beschreiben?
Die Person ist unheilbar krank, zum Beispiel mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung. Sie wird zu Hause betreut, hat eine Schmerzkrise und kommt zu uns ins Spital. Bei uns werden die Schmerzen eingestellt. Die Person geht wieder heim und wird von der Spitex und der mobilen Palliative Care betreut. Später hat sie vielleicht wieder eine Krise und kommt erneut zu uns und irgendwann ein letztes Mal. Eine Palliative-Station ist keine Sterbestation. Wir entlassen mehr Personen als bei uns sterben.
Ist das so? Haben Sie dazu Zahlen?
Auf den Palliative-Stationen des Stadtspitals Zürich Waid sowie des USZ behandeln wir jährlich mehr als 400 Patientinnen und Patienten, davon entlassen wir etwa 60 Prozent.
Über Hospize haben wir noch nicht geredet.
Es gibt leider in der Schweiz sehr wenig Hospize. Das hat auch mit deren Finanzierung zu tun. Die Krankenkassen zahlen nur die Pflege, nicht den Aufenthalt, so wie in Pflegeheimen. Hospize sind ungenügend finanziert und auf Spenden angewiesen. Auch da gibt es noch ein Entwicklungspotential.
Zur Person
David Blum ist Leiter des Zentrums für Palliative Care am Stadtspital Zürich. Gleichzeitig führt er das Kompetenzzentrum Palliative Care am USZ. Sein Fachwissen in Palliative Care hat er an verschiedenen Spitälern im In- und Ausland vertieft. Unter anderem war er in St. Gallen, Zürich sowie Hamburg tätig und hat in London und Norwegen geforscht. 2009 hat Blum den Facharzt Innere Medizin, ein Jahr später den Facharzt Medizinische Onkologie erworben. Seit 2019 ist er Assistenzprofessor für Palliative Care. Blum ist spezialisiert auf «Frühe Integration von Palliative Care» sowie «Ernährung und Bewegung bei Krebs».