Beat Straubhaar verteidigt das Fallpauschalen-System

Der langjährige Spitaldirektor wendet sich gegen die Kritik, wonach die Fallpauschalen zu Fehlanreizen führten und der Grund für die Mengenausweitung seien.

, 14. September 2017 um 20:06
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Das heutige Abgeltungssystem strotzt von Fehlanreizen. Das sagte Peter Fischer, früherer Visana-Chef und früherer Spitaldirektor, gegenüber Medinside. Hat er Recht?Nein, in dieser absoluten Form nicht! Die Abgeltung unter DRG ist nicht der Grund der Mengenausweitung. Die Mengenentwicklung ist vorab eine Folge der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts......
...medizinischer Fortschritt?Nehmen wir das Beispiel des Grauen Stars. Als ich vor 30 Jahren als Spitaldirektor begonnen hatte, erklärten mir die Augenärzte, sie operieren bei einem Sehverlust von 80 Prozent, und die Amerikaner operierten bereits bei einem Sehverlust von 50 Prozent. Heute operieren wir schon bei einem Sehverlust von 20 Prozent – und das ambulant. Das ist ein typisches Beispiel einer Mengenausweitung, verursacht durch den medizinischen Fortschritt. Und es ist ein Beitrag zu mehr Lebensqualität.
Spitäler haben alles Interesse, möglichst viele Patienten zu behandeln: Mehr Spitaleintritte, mehr Fälle, mehr Umsatz. Da hat Peter Fischer nicht unrecht. Ein Finanzierungssystem hat immer einen Anreiz, sich in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Vor dem DRG wurden die Pflegetage bezahlt. Deshalb wurde die Zahl der Pflegetage optimiert, die Patienten wurden länger als notwendig hospitalisiert. Heute hat das Spital mit der Finanzierung durch Fallpauschalen alles Interesse, die Patienten so kurz wie möglich zu behalten. Und sie sind bestrebt, zusätzliche Patienten zu gewinnen – aber nicht um jeden Preis.
Zusätzliche Patienten gewinnen, das heisst: mehr Gesundheitskosten.Nein, die Spitäler müssen sich zunehmend spezialisieren. Weil die Patienten qualitätsbewusster werden, werden diese vermehrt zur Behandlung dort hingehen, wo sie am besten behandelt werden Der Konkurrenzdruck unter den Spitälern hat zugenommen.
...eben. Und deshalb müssen sie um jeden Preis Patienten gewinnen.Nein. Nicht um jeden Preis. Gut geführte Spitäler reagieren auf den Konkurrenzdruck nicht mit unnötigen Spitalbehandlungen. Im Gegensatz zu früheren Abgeltungssystemen wird unter DRG einheitlich die erbrachte Leistung und nicht mehr der betriebliche Aufwand vergütet.

«Ein Geschäftsmodell, das darauf aufbaut, unnötige Spitalbehandlungen vorzunehmen, hat keine Zukunft»

Die Akquisition der Patienten muss nicht auf Kosten eines anderen Spitals gehen, sondern auf Kosten einer anderen, kostengünstigeren Behandlung.Ein Geschäftsmodell, das darauf aufbaut, unnötige Spitalbehandlungen vorzunehmen, hat keine Zukunft. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ein Hausarzt einen Patienten in ein Spital oder einem Spezialisten zuweist, wenn er den Eindruck hat, der Spitalarzt nehme Behandlungen vor, die nicht indiziert sind. 
Nicht jeder Patient geht via Hausarzt zum Spezialisten. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass sich ein Patient freiwillig einer Behandlung unterzieht, die nicht notwendig ist. Und übrigens, ich habe selten erlebt, dass Ärzte Behandlungen vornehmen, die nicht notwendig waren. Vergessen Sie auch nicht , dass die soziale Kontrolle in gut geführten Spitälern funktioniert.
Ärzte haben einen Informationsvorsprung. Wenn sie sagen, bei dieser Diagnose sei eine Operation angezeigt, wird der Patient kaum etwas dagegen haben.Die Zeiten ändern sich. Der Patient ist heute mündig und ist informiert. Heute sagen Patienten viel häufiger als früher: was ist die Alternative? Die überwiegende Zahl der Ärzte, die ihre Verantwortung wahrnehmen, werden dem Patienten die Alternativen aufzeigen. Die Patienten sind kritischer geworden.
Es gibt auch Ärzte, die nicht voll ausgelastet sind.  Es gibt immer Grenzfälle. Und es gibt sicher auch schlecht ausgelastete Ärzte, die eher auf einen Spitalaufenthalt tendieren. Ich habe in meinem Bekanntenkreis wiederholt gehört, dass beispielsweise bei einem notwendigen Gelenkersatz, man noch zuwarte, bis es wirklich nicht mehr anders geht und das im Einverständnis mit dem behandelnden Arzt.
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    Beat Straubhaar

    studierte Volkswirtschaft und Recht an der Universität Bern. Nach verschiedenen Führungsfunktionen in der Privatwirtschaft und der öffentlichen Verwaltung wurde er 1985 Direktor des Regionalspitals Thun und später bis Ende 2010 CEO des Regionalen Spitalzentrums Spital. Heute ist der 69-jährige Thuner als Berater, Projektleiter und im Interimsmanagement aktiv. Zudem ist er VR-Präsident des Psychiatrie Zentrum Münsingen und Präsident der Stiftung «Wohnen im Alter» in Thun. Beat Strauhaar ist der Bruder von Thomas Straubhaar, Direktor der Klinik Siloah in Gümligen.

Dank DRG haben Spitäler einen Anreiz, am gleichen Patienten immer nur einen Eingriff vorzunehmen, auch wenn zwei Probleme gleichzeitig gelöst werden könnten. Peter Fischer nannte Kniearthroskopien oder Varizeneingriffe.Auch das ist eine unbewiesene Behauptung. In den meisten Fällen ist es medizinisch indiziert. Behandelt man beide Knie gleichzeitig, ist die Mobilität beim Patienten massiv eingeschränkt. Das gleiche gilt beim Grauen Star. Da operiert man auch nicht beide Augen gleichzeitig. Wenn Behandlungen jedoch in der gleichen Sitzung machbar sind, so wird das in gut geführten Spitälern auch gemacht. Mehrfacheingriffe werden übrigens unter DRG auch honoriert, weil diese mit einer grösseren Ressourcenbelastung verbunden sind.
Ich bleibe dabei: Spitäler einen finanziellen Anreiz, möglichst viele Patienten zu behandeln.Selbstverständlich. Das ist eine Folge des bereits genannten. Konkurrenzdrucks, der zweifellos zugenommen hat. Die Spitäler müssen sich auf jene Gebiete spezialisieren, auf denen sie besonders gut aufgestellt sind. Ich wehre mich gegen die Behauptung, dass Spitäler Patienten behandeln, nur um damit den Umsatz zu erhöhen. Eingriffe, die nicht auf optimalen Prozessen basieren, generieren unter DRG zu mehr Kosten, als sie Umsatz bringen. Das ist der Vorteil von DRG.

«Es ist kaum zu erwarten, dass nun Spitäler dazu übergehen, unnötige Behandlungen vorzunehmen, nur um die verlangte Mindestfallzahl zu erhalten»

Spitäler wollen nicht nur Umsatz bolzen, sondern die vorgegebene Mindestfallzahl erreichen, damit sie im Geschäft bleiben.Mindestfallzahlen gibt es vor allem in der hochspezialisierten Medizin und in einigen weiteren Spitalbehandlungen. Es ist kaum zu erwarten, dass nun Spitäler dazu übergehen, unnötige Behandlungen vorzunehmen, nur um die verlangte Mindestfallzahl zu erhalten. Weder die Patienten noch die zuweisenden Ärzte noch die behandelnden Spezialisten würden sich dazu hergeben.
Man hat auch schon das Gegenteil gehört.Der Wahrheitsgehalt nimmt mit der dauernden Wiederholung dieser Behauptung nicht zu. Vielmehr werden Spitäler Kooperationen mit andern suchen oder auch ein Fachbereich aufgeben, um nicht ein unnötiges Risiko einzugehen. Wie bereits gesagt, die Patienten sind aufgeklärter, als früher.
Spitäler heuern Ärzte an, damit sie möglichst viele Patienten mitbringen. Je mehr Fälle, desto grösser der Bonus.     In Spitälern, in denen ich tätig war, hatten wir ein anderes Entschädigungssystem. Die Erfolgsboni basierten auf verschiedenen Pfeilern: dem finanziellen Ergebnis des Fachbereichs, dem finanziellen Gesamtergebnis des Spitals, der Patientenzufriedenheit und der Mitarbeiterzufriedenheit. Zudem wurden alle Mitarbeitenden an Erfolgsbonus beteiligt.
Es soll aber Spitäler geben, bei denen die Höhe der Boni von der Anzahl der Fälle abhängig ist.Damit hätte ich Mühe. Das ist kein adäquates Anreizsystem mehr. Spitaltätigkeit ist Teamarbeit.
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