Wie lange lebt man – statistisch – im Puschlav? Und wie lange nebendran im Veltlin? Eine neue Datenerhebung untersucht die Mortalität in europäischen Grenzregionen; und dabei insbesondere die Entwicklung im Zeitraum von 1995 (als das Schengen-System eingeführt wurde) bis 2019: Wo entwickelte sich die Lebenserwartung auseinander? Wo parallel?
Die Autoren – ein Team von Wissenschaftlern des deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung – suchten aus offiziellen Quellen (etwa nationalen Statistikämtern, Eurostat) die Mortalitätsdaten für 277 Regionen zusammen und harmonisierten sie. Erfasst wurden altersspezifische Sterbefälle; für die Auswertung nutzten die Autoren standardisierte regionale Indikatoren und verglichen Lebenserwartungstrends über die Zeit.
Ein erstes Ergebnis ist wenig überraschend – und trotzdem bemerkenswert: Die Lebenserwartung war in fast allen Grenz-Distrikten der Schweiz etwas höher als in den gegenüberliegenden Distrikten von Deutschland, Italien, Frankreich oder Österreich; dies sowohl bei Männern wie Frauen. Das deutet an, dass gewisse Stärken des Schweizer Gesundheitswesens selbst dann noch spürbar sind, wenn die sonstigen Unterschiede – ob kulturell oder wirtschaftsstrukturell – nicht besonders ausgeprägt sind.
Bei den Männern ist der Vorteil beispielsweise am klarsten im Baselland (+3 Jahre gegenüber der deutschen Nachbarregion) sowie in Neuenburg (+2.7 Jahre); dort machten die Statistiker aus Wiesbaden notabene die höchste Lebenserwartung in ganz Europa fest: Die Neuchâtelois haben eine Lebenserwartung von 87,6 Jahren.
Jungbrunnen Alpen
Klar sind die Unterschiede ferner in mehreren weiteren Regionen an der deutschen Grenze – Aargau, Zürich, Thurgau, St. Gallen. Gegenüber Italien ist der «Swiss Finish» etwas geringer, er liegt teilweise unter einem Jahr (Graubünden) und ist im Wallis praktisch gleich.
Dabei steht eine weitere Entwicklung im Hintergrund: Der Alpenraum hatte in den Jahren seit der Einführung des Schengen-Systems einen positiveren Trend als der Rest von Europa, wobei insbesondere italienische Regionen auffielen. Zwei Beispiele: Im Aostatal oder in Belluno im Südtirol hatte die Lebenserwartung 1995 noch unter dem EU-Schnitt gelegen; 2019 lag sie um 1,5 Jahre höher als im Rest von Europa.
Die reicheren Regionen Norditaliens seien sehr effizient darin, die «ursprünglich hohe Mortalität bei erwachsenen Männern zu senken», heisst es dazu in der Studie. «Blickt man auf die Schweizer Seite der alpinen Grenzregionen, so zeigen sich die höchsten Werte bei der Lebenserwartung, was im Einklang steht mit dem Status der Schweiz als eine der wohlhabendsten Regionen in Europa.» Und weiter: «Die spezifischen Charakteristiken der alpinen Umgebung, insbesondere das bergige Terrain, wurden auch schon mit einer höheren Lebenserwartung
in Verbindung gebracht: Leben in hohen Lagen könnte gesundheitliche Vorteile haben.»
Ergo verzeichneten auf der anderen Seite des Schlagbaumes auch das Tessin und Graubünden von 1995 bis 2019 einen Anstieg der Lebenserwartung, der besser war als die EU-Entwicklung.
In den deutsch-schweizerischen Grenzregionen stieg die Lebenserwartung diesseits des Rhein zwar langsamer als in den benachbarten deutschen Regionen – allerdings auf einem höheren Niveau.
Was lag am Gesundheitssystem? Welche Rolle spielt die Migration? Wie veränderte sich das Unfallgeschehen? Wie die jeweilige Präventionspolitik? Konkretere Deutungen der Entwicklungen wagen die Wissenschaftler nicht.
Stabile Unterschiede
Speziell ist diese Studie aber, weil sie alle üblichen Muster durchbricht: Normalerweise vergleicht man die Gesundheits-Systeme oder -Zustände ganzer Staaten; dies kaschiert jedoch, dass innerhalb der Staaten selber enorme Unterschiede bestehen, ob zwischen Grossstädten und Dörfern oder zwischen Klimazonen und Kulturräumen. Dagegen ähneln sich Grenzregionen häufig, selbst wenn eine Staatsgrenze dazwischen liegt: Stein und Säckingen sind sich näher als Säckingen und Berlin.
Dennoch zeigt die Auswertung von Stroisch, Grigoriev
et al., dass zwischen den Grenzregionen benachbarter Länder oft klare Unterschiede bestehen – und dass sich diese Unterschiede über die Zeit hinweg als sehr stabil erweisen. «Die Befunde deuten darauf hin, dass nationale Rahmenbedingungen weiterhin einen starken Einfluss auf regionale Sterblichkeitsunterschiede in Europa haben»,
erklärt Pavel Grigoriev, Mitautor und Leiter der Forschungsgruppe Mortalität am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.