Das Schweizer Gesundheitswesen steht an einem entscheidenden Punkt: Mit dem neuen ambulanten Tarifsystem Tardoc, das ab 2026 eingeführt werden soll, rückt die Ambulantisierung stärker in den Fokus. Die Erwartungen sind gross – von Milliardenersparnissen über flexiblere Versorgungsmodelle bis hin zu besseren Patientenerfahrungen.
Doch wie lässt sich sicherstellen, dass Ambulantisierung mehr wird als nur ein Schlagwort?
Patrick Vavken ist Orthopäde an der Alphaclinic Zürich und Adus Klinik mit Spezialgebiet Schulter- und Ellenbogenchirurgie. Er ist ausserdem Gründer von Vavken Health Labs, einem Think Tank für mehr Gesundheit auf allen Ebenen — von persönlicher Initiative bis zu systemischer Innovation.
Die Geschichte des elektronischen Patientendossiers (EPD) mahnt zur Vorsicht: Auch dort stand eine gute Idee am Anfang – gescheitert ist sie an der Umsetzung. Damit die Ambulantisierung tatsächlich zur tragfähigen Reform wird, braucht es mehr als Willensbekundungen: ein durchdachtes Modell, klare Rahmenbedingungen, eine realistische Finanzierung und vor allem eine Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen.
1. Ambulant oder spitalambulant?
Ambulantisierung bedeutet mehr als nur einen Wechsel vom stationären in den ambulanten Bereich. Jahrzehntelang waren Spitäler auf stationäre Versorgung ausgerichtet; spitalambulante Angebote blieben Randerscheinungen. Effiziente Prozesse entwickelten sich vor allem im niedergelassenen Bereich.
Ein neuer Ansatz ist das Modell Healthcare-as-a-Service. Hier erbringen ambulante Spezialisten – etwa UroViva – ihre Leistungen innerhalb bestehender Spitalstrukturen. Das spart Kosten, teilt Infrastruktur und entlastet das Personal. Spitäler müssen keine eigenen ambulanten Ressourcen aufbauen, wenn spezialisierte Partner bestehende Kapazitäten besser nutzen können.
«Entscheidend ist, bestehende, bewährte und nutzerzentrierte Lösungen zu integrieren – statt neue, staatlich aufgebaute Grossprojekte wie das EPD zu wiederholen.»
Ähnlich wie bei Mobility-as-a-Service entsteht so ein skalierbares Modell, das Flexibilität und Effizienz miteinander verbindet. Ambulantisierung wird damit zur smarten Systemlösung – nicht zum isolierten Einzelprojekt. Solche Modelle funktionieren bereits erfolgreich und verdienen gezielte politische Förderung.
2. Analog oder digital?
Nach einem ambulanten Eingriff sind viele Patientinnen und Patienten verunsichert: Wundheilung, Medikation, mögliche Komplikationen – oft fehlt eine verlässliche Begleitung in den ersten Tagen.
Digitale Helfer können genau hier ansetzen: Apps zur Symptomerfassung, Medikamentenerinnerung, Wunddokumentation oder gar KI-gestützte Beratung – wie etwa bei der Medgate-App – bieten niederschwellige Unterstützung. Bereits über eine halbe Million Menschen in der Schweiz nutzen solche Tools.
«Allein im Kanton Zürich werden bis 2050 jährlich rund 100'000 zusätzliche Spitalaufenthalte erwartet.»
Entscheidend ist, bestehende, bewährte und nutzerzentrierte Lösungen zu integrieren – statt neue, staatlich aufgebaute Grossprojekte wie das EPD zu wiederholen. Der gesetzlich verankerte Experimentierartikel im KVG eröffnet dafür Spielräume.
Gleichzeitig braucht es einfache, praxistaugliche Finanzierungsmechanismen: Die Aufnahme digitaler Anwendungen in die MiGel ist prinzipiell möglich, in der Praxis aber zu komplex. Hier wäre regulatorische Unterstützung dringend nötig.
3. Ersatz oder Ergänzung?
Die politische Debatte suggeriert oft, Ambulantisierung solle stationäre Versorgung ersetzen – also günstiger statt teurer, flexibler statt aufwendig. Doch diese Vorstellung greift zu kurz. Allein im Kanton Zürich werden bis 2050 jährlich rund 100'000 zusätzliche Spitalaufenthalte erwartet – das entspräche acht neuen Limmattal-Spitälern. Weder Krankheiten noch Versorgungsbedarf nehmen ab.
«Ambulantisierung ist keine Alternative, sondern eine notwendige Ergänzung der stationären Versorgung.»
Ambulante Versorgung kann helfen, diesen Anstieg abzufedern – etwa durch gezielte Patientenselektion: einfache Fälle ambulant, komplexere stationär. Voraussetzung dafür sind datenbasierte Steuerung, flexible Planung und eine klare politische Strategie. Ambulantisierung ist also keine Alternative, sondern eine notwendige Ergänzung der stationären Versorgung – und ein Hebel für mehr Effizienz im Gesamtsystem. Doch das System selbst wird dadurch weder kleiner noch automatisch günstiger.
4. Nachhaltig oder wirtschaftlich riskant?
So überzeugend die Idee, so schwierig ihre Umsetzung: Der bestehende ambulante Tarif Tarmed ist nicht kostendeckend. Ob Tardoc ab 2026 daran etwas ändert, ist offen – vor allem, wenn er «kostenneutral» eingeführt wird. Einige Spitäler können bereits heute ambulante Leistungen kaum kostendeckend erbringen.
Ambulantisierung bedeutet Investitionen: in Infrastruktur, Personal, digitale Prozesse und neue Modelle. Die Kosten steigen zunächst, Effizienzgewinne sind möglich, aber nicht garantiert. Wer ambulant behandelt, darf wirtschaftlich nicht benachteiligt werden – im Gegenteil: Die Umstellung muss attraktiv sein.
Was bisher fehlt, ist ein gemeinsames Verständnis des zugrunde liegenden Versorgungsmodells. Zwar ist durch EFAS und TARDOC bald genau geregelt, wer zahlt – unklar bleibt, wofür. Erst wenn das klar definiert ist, kann auch über einen fairen Preis verhandelt werden.
Fazit:
Ambulantisierung kann zur nachhaltigen Erfolgsstrategie im Schweizer Gesundheitswesen werden – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Und wenn wir aus den Fehlern des EPD lernen: Keine Reform ohne klares Konzept. Keine Euphorie ohne solide Fundamente.