Ambulante Psychiatrie: Ohne neue Berufsprofile und KI wird’s kaum gehen

Der Fachkräftemangel in der Psychiatrie verlangt einen massiven Umbau der Versorgung. Aber wie? Ein realistisches Zukunftsszenario.

Gastbeitrag von Peter Baumgartner, 8. März 2024 um 23:00
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«Es bräuchte dringend mehr psychiatrieerfahrene PolitikerInnen»: Peter Baumgartner  |  Bild: zvg
Ich suche für meine Praxis seit langem eine Nachfolge, ohne Erfolg. Der psychiatrische Fachkräftemangel hat auch unsere Region voll erfasst. Er wird wohl bleiben oder sich sogar noch verstärken. Denn die schweizerische Gesundheits- und Standespolitik will es so oder lässt es zumindest seit Jahren zu.
Die «normale» ambulante Psychiatrieversorgung wird sich somit in Zukunft zwangsläufig stärker in das Dreieck Hausarzt — Psychologe — Ambulante Psychiatriepflege (Psychiatrie-Spitex) verlagern müssen.
  • Peter Baumgartner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Allgemeine Innere Medizin. Er studierte in Bern und führt seit 23 Jahren eine Praxis für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, zuerst in Burgdorf, seit 2017 in Spiez.
Dies wiederum wird gewisse standardmässige Kompetenzerweiterungen erfordern:
  • GrundversorgerInnen werden sich noch mehr als bisher mit Psychopharmaka sowie der korrekten Indikationsstellung zur optimal passenden Psychotherapie befassen müssen. Die alte Forderung nach Ergänzung des hausärztlichen Weiterbildungs-Curriculums mit einem obligatorischen Halbjahr in Akutpsychiatrie gewinnt wieder an Aktualität, diesmal dringlicher denn je. Denn die weitere Systemstabilität hängt mit davon ab.Es könnte aber zur Deckung dieser Defizite der Einfachheit halber bereits heute schon gute KI eingesetzt werden.
  • PsychologInnen werden sich systematischer als bisher um die Integration ihres psychotherapeutischen «Kerngeschäfts» mit den bei ihren PatientInnen vorliegenden (psycho)somatischen sowie sozialmedizinischen Problemen kümmern müssen. – Dies erfordert neben regelmässigen Updates in Psychopharmakologie analog den Hausärzten relevante Grundkenntnisse in wesentlichen somatischen Gebieten, welche häufig in psychophysiologischen Wechselwirkungen involviert sind (Herz-Kreislauf, Atmung, Verdauungstrakt, Haut, Infektiologie/Immunologie).
Auch hier fände gute KI schon heute viele sinnvolle Einsatzmöglichkeiten.
«PsychologInnen werden schon bald die weniger komplexen Fälle im Verbund mit den Hausärzten selber betreuen müssen.»
Nötig wird das nur schon, damit die Psychologen im Verbund mit den Hausärzten in Zukunft die weniger komplexen Fälle der bisherigen so genannten Integrierten Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Behandlung (IPPB) selber betreuen können – und wohl sehr bald auch wirklich müssen, weil sonst das System kippt und die Psychiatrie-Notfallstationen kollabieren.
Dies würde umso rascher passieren, je stärker sich die PsychologInnen in ihrem Kerngeschäft einigeln.
  • Tüchtige Fachpersonen der Ambulanten Psychiatrie-Pflege (APP, Psychiatrie-Spitex) werden in allen oben genannten Behandlungsaspekten wichtige Unterstützung und Vertiefung vor Ort bei den PatientInnen leisten müssen. Und sie werden auch die Vernetzung im Helfersystem selber massgeblich mitsteuern müssen. Dies hatte schon bisher in vielen Fällen hohe Bedeutung für den Behandlungserfolg – und es dürfte noch wichtiger werden.
Hier wäre wohl Einsatz von KI noch längere Zeit eher nicht angebracht, sondern wohl störend.
  • Die PsychiaterInnen – ohnehin eine schrumpfende Zahl – werden sich wohl zum grossen Teil noch in Fachkliniken, Regionalen Psychiatrie-Diensten und deren Notfall- und Krisenstationen betätigen.
  • Der kümmerliche Rest unserer frei praktizierenden Zunft wird sich dann sinnvollerweise einem grösseren privaten Grundversorger-Praxiszentrum anschliessen müssen, um wenigstens dadurch die öffentliche Psychiatrie der Region teilweise zu entlasten – zum Beispiel von den so genannten «Heavy User»-Patientinnen (polymorbid, chronisch, malcompliant, psychosozial / sozioökonomisch prekär usw.).

Klar schlechtere Behandlung

Diese am schwersten kranke PatientInnengruppe wird unter den aktuellen Voraussetzungen wahrscheinlich bereits in naher Zukunft eine deutlich schlechtere Behandlung hinnehmen müssen – wohl auch mittelfristig –, bis hoffentlich eines Tages die Politik die psychisch Erkrankten als Ganzes nicht mehr diskriminiert (durch versteckte Rationierung und zu tiefe, institutionell teils nicht einmal kostendeckende Tarife). 
So gesehen bräuchte es auch dringend viel mehr psychiatrieerfahrene PolitikerInnen.
Vielleicht bringt ja der ersehnte Tardoc in dieser Hinsicht wirklich etwas Linderung, was sich dann in circa zehn Jahren in einer gewissen Trendumkehr beim Psychiatrienachwuchs äussern könnte… Immer vorausgesetzt, dass die eigentliche Behandlung in Psychiatrie und Psychotherapie bis dann nicht grösstenteils auch durch die rasant sich verbessernde KI in ähnlicher Qualität erbracht werden kann – jedenfalls bei leichten bis mittelschweren Fällen.
Eine klare Vorstufe respektive ein mögliches Vehikel dazu ist die bereits erfolgreich anlaufende «blended therapy».
«Zum Trost mag uns dienen, dass damit die Psychiatrie näher zur Lebenswelt der Menschen gebracht würde.»
Die KI ist jedenfalls in Kürze – am richtigen Ort eingesetzt und unter «Veto-Kontrolle» sehr guter Fachleute – diesen Fachleuten durchaus überlegen, wie wir in der Somatik bereits sehen.
Im Hintergrund würden dann die wenigen noch verbliebenen PsychiaterInnen (d.h. homo sapiens) als Experten etwa für weitere KI-Systemoptimierungen oder zur Schulung angrenzender Berufsgruppen dienen; oder doch noch zur Mitbehandlung besonders kniffliger interdisziplinärer Fälle. – Schöne neue Welt.
Zum Trost mag uns dienen, dass damit immerhin, wie es Klaus Dörner vor langer Zeit schon forderte, die Psychiatrie näher zur Lebenswelt der Menschen gebracht würde, anstelle des jahrhundertealten leidvoll praktizierten Gegenteils – der Internierung, Absonderung und Stigmatisierung.
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